Liebes Internet,
heute habe ich auf Facebook bekannt gegeben, dass ich ADHS habe. Ich sage „bekannt gegeben“, weil es sich so anfühlte, als würde ich etwas Wichtiges verkünden. Aber außer für mich und ein halbes Dutzend fantastischer Menschen, die sich vielleicht in einer ähnlichen Situation befinden, hat das vermutlich keinen besonderen Wert.
Queen Elizabeth ist gestorben.
Die Klimakatastrophe lässt sich nun nicht mehr verhindern.
Ich habe ADHS.
ADHS kann je nach Perspektive vieles sein. Eine Verhaltensauffälligkeit. Eine Erfindung der Pharmaindustrie. Eine psychische Störung. Eine Behinderung. Eine neurologische Besonderheit. Oder eine Normvariante menschlichen Daseins. Es bedeutet dass ich mich selbst und die Welt anders wahrnehme als neurotypische Menschen. Dass ich mich anders in ihr bewege, andere Schlüsse ziehe, manchmal anders reagiere als erwartet, anderen Spuren nachgehe und mich mehr anstrengen muss, um sowas wie innere und äußere Balance zu erreichen. Weil in meinem Kopf andere Regeln herrschen.
Neurotypisch bedeutet: Deine Neurologie entspricht dem, was von den meisten Menschen als normal betrachtet wird. Neurodivergent heißt: Deine Neurologie weicht in irgendeiner Art und Weise davon ab. Menschen kämpfen seit einer Weile dafür, dass wir Neurodivergenz – wozu zum Beispiel auch Autismus, Tourette, Dyslexie und viele weitere neurologische Besonderheiten oder Behinderungen zählen – nicht mehr pathologisieren. Ich finde das gut. Aber es ist nicht leicht. Es wird nicht leicht.
36 Jahre lang fühlte ich mich wie ein Mensch, der zwar irgendwas hat – sonst hätte ich mich ja nicht so oft gefühlt wie ein Alien – aber sicherlich kein ADHS. Denn ADHS hatten in meinen Augen vor allem kleine anstrengende Schuljungen, die nicht lange auf Stühlen sitzen können, die einen unglaublichen Bewegungsdrang haben, viel reden, viel Unruhe stiften, generell viel Leben in sich tragen.
Ich dachte, das wäre einfach eine seltsame Mischung aus ein bisschen Introversion, Sensibilität, Impulsivität und Ohnmacht. Und ein noch fehlendes Teil, das sich da schon irgendwie einfügen würde, ohne dass die Dinge sich neu ordnen. ADHS ist aber nicht einfach nur das fehlende Teil. Es ist kein einzelnes fehlendes Puzzlestück, das das fast fertige Bild irgendwann komplett macht. Es ist viel eher deine eigene Bedienungsanleitung, die endlich in deine Sprache übersetzt wurde.
ADHS fühlt sich für mich manchmal so an wie eine tollwütige Katze, die wild miauend einen Flummi von einer Innenseite meines Schädels an die andere springen lässt, während ein weit hinter seinen Möglichkeiten zurück bleibender Siebenschläfer, der auch genauso gut ein verdammter Zwölfschläfer sein könnte, daneben liegt und den Spieltrieb der Katze und jede Bewegung des Flummis kommentiert – mal mehr und mal weniger klug.
Und als wäre das nicht genug, laufen im Hintergrund immer zeitgleich mehrere Lieder. Und die gefallen mir noch nicht mal alle.
Holiday (Madonna). You´re the voice (John Farnham). Let my love open the door (Pete Townshend). Apply some pressure (Maximo Park). Rasputin (Boney M.). Scream (Michael & Janet Jackson). Waiting for a star to fall (Boy meets girl). Here comes the hotstepper (Ini Kamoze). Age of Anxiety (Arcade Fire). Danger Zone (Kenny Loggins). What´s the frequency, Kenneth? (R.E.M.). The sign (Ace of Base).
Ein bisschen zu wenig Selbstregulierung, ein bisschen zu viele Selbstvorwürfe, zu viel Zeitnot und Energieverschwendung, zu viele unerledigte Dinge. Ich dachte, in den Köpfen der anderen Menschen sieht es auch so aus, dass es da auch diese Katze, diesen Flummi, diese schläfrige Stimme aus dem Off und die Hintergrundmusik gibt. Dass die anderen das alles aber besser koordinieren als ich. Weil sie geschickter, klüger, netter, höflicher, talentierter, disziplinierter sind. Man kann die Reihe unendlich fortsetzen.
Dann stieß ich kurz vor meinem 36. Geburtstag und nach einer Phase, in der ich über viele Wochen und Monate das Gefühl hatte, zu den wertlosesten Menschen auf diesem Planeten zu gehören, zufällig auf ein Video, in dem eine junge Frau über ihr Leben mit ADHS berichtete. Und was sie erzählte und wie sie es erzählte – das war so ganz anders als mein voreingestelltes Bild vom kleinen lauten, unkonzentrierten Energiebündel.
You are not a failed version of normal.
Vieles von dem, was sie erzählte, kam mir erschreckend bekannt vor. Meine uralte Frage „Wie kontrollieren andere Menschen dieses schreckliche, wunderbare, vielversprechende, erdrückende Chaos in ihrem Kopf?“ verlor danach langsam ihre Bedeutung. Ich frage nicht mehr „Was ist mit mir los? Warum fühle ich mich so müde? Was stimmt da nicht?“ Ich frage „Wie kann ich mit dem haushalten was da ist?“ Wo kann ich Abkürzungen nehmen? Wo hole ich mir Hilfe? Wo lerne ich überhaupt erstmal, mir Hilfe zu holen?
Dieser Flummi in meinem Kopf ist nicht vollständig beherrschbar. Er ist aber oft vorhersehbar. Manchmal kann ich seine Flugbahn vorausrechnen.
Ich weiß jetzt, dass ich immer zu mir kommen kann, wenn ich Sorgen, Ängste und gute Ideen habe. Dass ich mich nicht mehr schämen muss vor mir selbst. Ich hab jetzt diese Bedienungsanleitung, die mir hilft, mich ein bisschen besser zu verstehen. Und ich habe zum Glück ein paar Menschen um mich herum, mit denen ich darüber sprechen kann. Wo die Übersetzungsarbeit von der einen in die andere Sprache mich nicht so viel Energie kostet. Die sagen nicht „Keine Ahnung, was du meinst, hab ich noch nie erlebt, komplettes Neuland.“ Sondern eher: „Klar, kenn ich.“
Oder wir tauschen uns aus und vergleichen unsere Gedanken und das Innere unserer Gehirne miteinander. Dann stellen wir fest: Die Katze ist mehr oder weniger dieselbe, aber sie spielt nicht bei jedem mit einem Flummi, sondern bei einigen mit einem Wollknäuel und der Kommentator ist bei anderen kein Siebenschläfer, sondern ein Affe und der kommentiert nicht nur, der kann auch Befehle geben. Dann frage ich: „Wie macht der das mit den Befehlen?“ und wir lernen voneinander.
Aber mehr als drei Jahrzehnte lang wusste ich nichts von all dem. Als Frau habe ich gelernt, viel zu maskieren. Was nach außen gehen könnte, habe ich so oft wie möglich nach innen gerichtet. Ärger, Wut und Enttäuschung vor allem. Im Inneren kann ich es wenigstens halbwegs kontrollieren. Oder irgendwo verloren gehen lassen, bis es Jahre später als körperliches Symptom zurück kommt. In meinem Inneren sieht man es nicht. Hauptsache nirgendwo anecken mit eigenen Werten und Vorstellungen. Wie ungesund kann das auf Dauer schon sein?
Niemand kam auf die Idee, dass ich ADHS haben könnte. Aber Ratschläge gab es.
Arbeite einfach an deinem Selbstbewusstsein, mach dir für alle Bereiche deines Lebens eine To-Do-Liste und lerne, mehr so zu kommunizieren, wie wir – die neurotypische Mehrheitsgesellschaft – miteinander kommunizieren. Und hinterfrag doch nicht immer alles. Dieses ständige Overthinking. Das muss doch nicht sein. Ändere dein Mindset und damit du nicht ganz so verloren bist, kannst du dafür gern unsere Koordinaten benutzen. Vielleicht ist es auch eine Depression, du siehst ja auch immer so traurig aus, und es gibt eben leider Menschen, die etwa sensibler und nicht so widerstandsfähig sind.
Manchmal habe ich danach gefragt. Manchmal nicht. Die Ratschläge, um die ich nie gebeten habe, und die Ratschläge, die mir mit einer bestimmten Intention gegeben wurden, haben mich eine ganz schön lange Zeit ziemlich verunsichert.
Ich hab mich vor allem in den Monaten vor diesem Aha-Moment ziemlich wertlos gefühlt. Wie ein Nebendarsteller in den Stücken anderer Hauptdarsteller, der sich selbst nur noch in Bezug zu anderen erlebt. Dem man eigene Gedanken, eine eigene Wahrnehmung, einen längeren Text und eigene, sinnvolle Regieanweisungen nicht zutraut. Der sich das selbst auch nicht mehr zutraut.
„Society is our users manual. We learn how our brains and bodies work by watching those around us. And when yours works differently, it can feel like you are broken.“ (Jessica McCabe)
Ich schreibe das, um meine eigenen Gedanken zu ordnen. Um zu reflektieren. Und weil es vielleicht irgendwem da draußen hilft, sich selbst ein bisschen besser zu verstehen. Das Bild, das uns von ADHS & Co. vermittelt wird, ist unvollständig. Was die Schwächen und Stärken, was die Ursachen und vor allem was die Auswirkungen betrifft. Es gibt darüber so viel zu berichten, aber ich will es erstmal dabei belassen.
Momentan möchte ich hier einfach nur wieder ein bisschen vor mich hin bloggen. Das hat mir früher, ganz unbewusst, sehr geholfen. Dass ich mich sortieren und einfach drauflos schreiben wollte und konnte. Einfach drauflos. Das können Menschen mit ADHS manchmal ganz gut.