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Kopf

Dopamin und Minigolf

Seit drei Tagen beschäftigt mich ein Gedanke, der erstens irgendwie fast immer da war, der mich zweitens total erleichtert und der mich aber auch drittens ziemlich verängstigt. Ich glaube nämlich, ich bin nicht so normal wie ich immer dachte.

Ich glaube mittlerweile, ich steh gar nicht mit einem Bein in der Welt der Normalen und mit dem anderen Bein in der Welt der Nicht-Normalen, sondern ich stehe eigentlich mit beiden Beinen relativ klar und deutlich in der Welt der Nicht-Normalen, aber weil ich ab und zu so meine rhetorischen Momente und sehr viel Glück, ein winzig kleines bisschen Talent und immer wieder auch sehr viel Sichtkontakt zu den Normalen habe, ist das bisher niemandem so richtig aufgefallen und mir am allerwenigsten.

Und fragt mich jetzt besser nicht, warum ich denn dachte, dass ich normal bin und ob ich dieses Normalsein denn überhaupt definieren kann.

Ich weiß nur: Die Normalen, sie erschöpfen mich gelegentlich. Oder meine Reaktion auf ihr Normalsein erschöpft mich. Zugegeben, ich erschöpfe sie auch an verschiedenen Stellen. Ich dachte, dass ich wüsste, warum das so ist, aber ich habe nicht scharf genug nachgedacht.

Das Besondere ist, dass mir der letzte Groschen dazu nur gefallen ist wegen dem Facebook-Algorithmus. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Superpeinlich und so 2016. 2016, als uns allen noch nicht so bewusst war, wie sehr dieser Algorithmus die Menschen spaltet und ausweidet, bis der ganze Datensatzsaft aus ihnen herausläuft. 2016, als wir noch insgeheim hofften, es gäbe wirklich so etwas wie den größten gemeinsamen Nenner. Vielleicht war das auch 2006, ich habe keine Ahnung, ich bin schließlich zerstreut.

Vor drei Tagen hätte ich das hier geschrieben, es gelesen und mir gedacht: Ganz schön wirr, das muss man nicht unbedingt veröffentlichen. Vor drei Tagen dachte ich aber auch noch, dass ich im Zweifel zu den neurotypischen Menschen gehöre, die sich einfach mal mehr anstrengen oder weniger nachdenken oder an ihrem Mindset arbeiten müssen, ohne Rücksicht auf Verluste, Umstände und Neurotransmitter.

Ich dachte, dass ich zur unteren neurotypischen Mittelschicht zähle. Oder halt zur oberen neurotypischen Unterschicht. Woran ich nie gedacht habe: Dass meine Wahrnehmung, mein Verhalten, meine Stärken und Schwächen nicht so normal und durchschnittlich und mehr oder weniger unauffällig sind, wie ich das irgendwie gerne hätte.

Seit drei Tagen freunde ich mich mit dem Gedanken an, dass meine Drehregler anders funktionieren als gedacht. Das ist kein heldenhafter Moment für jemanden, der immer gedacht hat, dass er sich eigentlich ganz gut kennt. Im Grunde stehe ich seit Jahren am Rande eines Fußballfeldes, schaue mir das Spiel (also die sozialen Gepflogenheiten) an, finde die Gruppendynamik und die Regeln etwas unverständlich und werde gelegentlich aus Versehen eingewechselt.

Im Grunde bin ich aber Minigolfer. Häufig schlage ich daneben, keine Ahnung, wer gewinnt, keine Ahnung, ob das wichtig ist. Es gibt keinen Kommentator und wenn doch, dann hört man ihn nicht. Aber es gibt eine Langnese-Eis-Tafel und es gibt immer mehrere Versuche und manchmal dauert ein Spiel vier Stunden. Wenn es regnet, stellt man sich unter. Dann gibt es Pommes, Cola und gute Gespräche. Beim Fußball kommt das kaum vor. Es wird auch weniger gebrüllt, außer bei der einen verdammten Bahn.

Es spricht vieles für Minigolf und in meinem Kopf erscheint es vollkommen logisch, möglichst viele Spiele im Fernsehen zu übertragen.

Neurodiversität und Minigolf und der Facebook-Algorithmus also. Zwischendurch eine Pandemie, ein trauriges Haustier, eine Trennung, zu viele fragwürdige Demonstrationen auf der Straße und die Frage: Wo ist mein Zuhause? Und kann das nicht die Welt sein? Also so ganz generell. Warum verteidigen und erdrücken und ersticken wir so oft das, von dem wir vor dem großen Finale doch sowieso nicht wissen können, welchen Namen wir dem ganzen geben wollen oder müssen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich gerne mal wieder Minigolf spielen würde. Und dass ich schon immer gerne Minigolf gespielt habe.

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Kopf

Es geht gleich wieder

Heute lebe ich seit ungefähr 400 Tagen mit einem seltsamen Gefühl im Nacken. Nicht ununterbrochen, aber immer mal wieder. Es ist eine Mischung aus Sorge und Mitgefühl, etwas, das zur Hälfte nach innen und nach außen geht. Alle paar Tage bis Wochen heule ich einmal kurz Rotz und Wasser und bis auf wenige Ausnahmen bin ich dabei immer allein. Einige Male, in denen ich nicht allein war, hatte ich trotzdem das Gefühl, allein zu sein.

Seit ein paar Monaten kann ich mir vorstellen, was passieren muss, damit aus einem Menschen, der immer weinen und offen über die eigenen Sorgen sprechen konnte, jemand wird, der sich so eine richtig hässliche drittklassige Rüstung zulegt. Also keine gute Rüstung, die wirklich was taugt und gut sitzt und aus gutem ganz leichtem Material ist, sondern so eine aus dem … sagen wir mal… Action Markt. Aber immerhin – eine Rüstung.

Ich heule nicht, weil ich in einer akuten, verzweifelten Lage bin oder weil jemand, der mir etwas bedeutet, an dem Virus gestorben ist, sondern weil ich nicht diszipliniert genug bin beim Abschütteln von negativen Gefühlen. Und weil ich nie lange an dem Gefühl festhalten möchte, sondern ihm eigentlich nur die Tür öffnen, es sehen, annehmen, kurz umarmen und dann wieder verabschieden möchte. Einmal kurz heulen und dann geht es einfach weiter.

Manchmal begegnen wir im Leben Menschen, die es nur gut meinen, wenn sie uns vorschlagen, dass wir das Klopfen auch einfach ignorieren können. Man muss das negative Gefühl ja nicht reinlassen.

Das Problem ist, diese Leute sitzen oft mit dem Rücken zum Fenster und sie sehen nicht, wie das Gefühl noch eine Weile ums Haus schleicht und durch die Scheibe schaut. Und selbst wenn wir dann die Gardinen zuziehen, wissen wir: Das Gefühl war da, es hat geklopft, es kann noch nicht weit sein.

Und was der andere Mensch, der es vielleicht nur gut meint oder der sich vielleicht einfach nur selber schützen oder nicht gestört werden möchte, nicht weiß: Dieses negative Gefühl flüstert uns – also mir – bei dieser kurzen Begegnung immer etwas ins Ohr. Und das sind nie böse Worte, das ist keine Beleidigung oder ein Fluch.

Es sagt: Pass gut auf dich auf.
Genau genommen sagt es immer nur zwei Sätze.
Zur Begrüßung: Komme ich gerade ungelegen?
Zum Abschied: Pass gut auf dich auf.

Manchmal glauben die Menschen, die mit dem Rücken zum Fenster sitzen, und gerade nur nach drinnen und nicht nach draußen schauen können, dass das Gefühl zum Essen bleiben möchte. Sie glauben, es bleibt länger, es hat Durst und Hunger und erwartet jetzt irgendwas. Oder packt direkt die Isomatte aus. Aber das Gefühl will nie lange bleiben und es erwartet eigentlich gar nichts Besonderes von uns, nur dass wir es ein einziges Mal kurz reinlassen, nur dass wir das Klopfen nicht ignorieren.

„Es geht gleich wieder.“, sagen wir, wenn der andere fragt, was er tun soll oder eine Lösung vorschlägt für ein flüchtiges Problem. Für etwas, was gar kein richtiger Besuch ist, nur ein kurzes Signal, empfangen von Antennen, die wir dann irgendwann – weil wir uns schuldig fühlen – abschrauben.

Und dann werden wir unglücklich, wir erleben den Anfang und den Mittelteil und das Ende vom Ende, und wir vergessen, dass es keine Rolle spielt, ob irgendeiner von den wunderbaren Menschen und den verdammten Wichsern da draußen unsere Furchtlosigkeit als solche überhaupt erkennt.

Niemand hat uns tatsächlich gebeten, die Antenne abzuschrauben. Das braucht es gar nicht. Es reicht manchmal aus, in einer Gesellschaft zu leben, die einen Teil ihrer Zeit damit verbringt, sich über ungebetene Gäste zu beschweren. Über diese negativen Gefühle, die gleich wieder gehen, wenn man sie akzeptiert, von denen man aber nie weiß, wie lange sie eigentlich im ungünstigsten Fall ums Haus schleichen.

Vor drei Wochen habe ich wieder eine leere Word-Datei geöffnet und einige meiner Lieblingsorgane (jeder braucht Lieblingsorgane. Welches sind eure? Schreibt´s mir in die Kommentare) haben sich angefühlt als wären sie irgendwie über Nacht leichter geworden. Es hat geklopft, ich hab die Tür geöffnet und noch auf der Schwelle einen längeren Blick auf die Sorgen und den Zorn und die Unzulänglichkeit geworfen. Und mir erlaubt zu fragen: Wo kommt ihr überhaupt her?

Und seid ihr hier überhaupt richtig?

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Porzellanladen

Knöpfe

Denkt an bequeme Pyjamas und eure Lieblingssocken, weil diese kleinen Details es bequemer für euch machen, und denkt an ein Oberteil mit Knöpfen vorne dran, schreibt die fremde Person ins Internet nach ihrer Herz-Op. Denkt an die Oberteile mit den Knöpfen vorne. Also weine ich ganz kurz, nicht weil es mich gerade betrifft und ich Angst haben müsste, ich weine kurz, weil es mich rührt, dass Menschen einander Erinnerungen schicken. An Oberteile mit Knöpfen dran. So etwas kleines banales. Wahrscheinlich ist die Welt gar nicht so verloren.

 

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Nachgefragt

Betriebsanleitung

Was würde in deiner Betriebsanleitung stehen, wenn du eine schreiben müsstest? Was verärgert dich mehr? Die Unpünktlichkeit von Menschen, die fünf Minuten zu spät kommen, oder die Unpünktlichkeit von Menschen, die zehn Minuten zu früh kommen? Würdest du beides als Unpünktlichkeit bezeichnen oder schüttelst du über das eine den Kopf, während das andere für dich selbstverständlich ist? Bist du ein typisch Deutscher? Was ist typisch deutsch? Was sagt es über dich aus, wenn du die Frage beantworten kannst oder sie einfach überspringst? Wie schnell räumst du den Tisch ab, wenn du mit Freunden zusammen bist? Bist du Querdenker, Vordenker, Nachdenker?

Bist du lösungsorientiert? Fällt es dir leicht, um Hilfe zu bitten? Behandelst du andere immer genau so, wie du gerne selber behandelt werden möchtest? Bist du jemand, mit dem man Monate später Gespräche wieder aufnehmen kann an genau der Stelle, an der man zuletzt unterbrochen wurde? Wenn du auf Anhieb deine drei wichtigsten Werte benennen müsstest, könntest du das? Und wie lange müsstest du überlegen? Wählst du seit 15 Jahren die gleiche Partei? Findest du Dinge albern, die für andere eine hohe Bedeutung haben? Leidest du mehr als die anderen unter deinen eigenen Schwächen? Welches sind die „Bitte nicht stören“-Dinge in deinem Leben?

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Kopf

Die Leiter der Abstraktion

Neulich haben wir wieder diskutiert. Wir streiten nicht, wir diskutieren nur. Es donnert und blitzt nie, es regnet nur immer, dabei kann so ein Gewitter wirklich schön sein. Diskutieren heißt, ich verknüpfe tausend scheinbar unabhängige Dinge miteinander und lasse Bilder in den Köpfen entstehen, die dabei helfen, zu verstehen, wovon ich rede. Du sagst, niemand kann das so gut wie ich. Ich nehme das Kompliment an und sage einfach: Ja, wahrscheinlich kann das wirklich niemand so gut wie ich.

Ich bin sehr abstrakt, aber ich kann auch sehr konkret werden. Das Abstrakte hilft dabei, dass niemandem auf die Füße getreten wird und alle außer mir die Zimmertemperatur genießen können. Wenn dann jeder erwachsene Mensch oder diejenigen, die von sich glauben, erwachsen zu sein, sich in Sicherheit wiegt, und ich mich immer noch unverstanden fühle, kommt der konkrete Teil.

Ich steige die Leiter der Abstraktion runter, so schnell kannst du gar nicht gucken, ich schmeiß die Leiter in den Dreck, ich lasse sie achtlos liegen, auch den bürokratischen Teil, der uns oft durch das Leben rettet oder das was davon übrig ist. Ich steige jedenfalls runter und stehe dann mit beiden Füßen in der Scheiße und dann spreche ich darüber.

Ich kann ganz lange auf der obersten Sprosse herumturnen, feige und vage und wohlklingend, und ein bisschen auch wohlbehütet. Ich kann das wochen-, monate-, jahrelang durchziehen, bis an den Rand einer Angststörung, ab und zu lasse ich es kleine Tannenzapfen auf die Scheitel der anderen regnen, aber das tut nicht weh, das bisschen Ironie und Sarkasmus, viele bemerken das kaum oder reagieren nicht, weil sie die Kunst der stoischen Ruhe beherrschen.

Ich bin jedenfalls ganz sachte und leise und nahezu unsichtbar, ich deute an, ich weiche aus, ich bin ein bisschen tollpatschig, ein bisschen kompliziert und ich drücke mich auch ganz brav ganz eng an die Wand, damit alle anderen ihre schöne kraftvolle Spannweite nutzen können. Ich drücke mich an die Wand, mit meiner eigenen Spannweite. Und dann reicht es mir. Dann schließe ich die vielen offenen Seiten in meinem Kopf, ich drücke auf „Zwischenspeichern“, ich verliere die Fassung.

Neulich haben wir diskutiert, ich weiß nicht mehr worum es ging, ich weiß aber, dass ich ein Bild von zwei Menschen gemalt habe, um dir zu sagen, dass ich dich irgendwie verstehe.

Einer lässt zu, dass die negativen Emotionen, die Wut, die Scham, die Fassungslosigkeit etwas mit ihm machen, er lässt zu, dass sie ihn verändern, kurzfristig, damit er mittelfristig etwas damit machen kann. Der andere betrachtet die negativen Emotionen flüchtig, er gewährt ihnen keinen Zugang, aber er erinnert sich und manchmal passiert es, dass die Person eine Weile später an einem ganz anderen Ort mit ganz anderen Menschen allein durch die Erinnerung es schafft, Dinge aufzulösen, Gemüter zu beruhigen, etwas besser einzuordnen.

Beides ist wertvoll, beides kann die Welt zu einem schlechteren, aber viel öfter auch zu einem besseren Ort machen. Wenn wir versuchen, das Verhalten des anderen zu verstehen. Nachdem wir es (wie die erste Person) ausgiebig bewertet haben oder (wie die zweite Person) ausgiebig und unter enormer Kraftanstrengung versucht haben, jetzt bloß nichts zu bewerten.

Es gibt Menschen, denen ist das eine so fremd wie das andere. Die gucken sich das nicht an, die lassen sich nicht verändern, die finden das affig und nennen es Standpunkt. Von denen rede ich nicht. Ich rede von den Nörglern und den Kaltherzigen, die weder nörgeln, noch kaltherzig sind, aber so wirken müssen, manchmal, auf andere.

Menschen sind spannende Tiere. Und ich kann nicht mehr so lange auf der obersten Sprosse sitzen. Ich habe nämlich Höhenangst. Und da oben passiert ja nicht viel. Man sieht alles, aber keiner hört zu, verständlicherweise. Keiner hört dich reden, keiner hört dich denken. Gott sei Dank und schade eigentlich.

Würde man mich denken hören, gäbe es viel mehr geschwollene Lippen und auch viel mehr Girlanden auf der Welt und auch Panzer, die wir irgendwie, falls das möglich ist, als Gulaschkanonen zweckentfremden.

Ich stehe gern da unten in der Scheiße und schneide mich vielleicht hin und wieder an einer Glasscherbe. Es ist schön da, wenn man die Scheiße trocknen lässt und es langsam aufhört zu bluten und man sich überlegen kann, wie man die Wunden versorgen möchte.

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Kopf

Spezialisten, Exorzisten, Generalisten und Positionierung

Das hier wird jetzt sehr abstrakt. Ich entschuldige mich von Herzen bei all jenen Menschen, die damit nicht umgehen können.

Wenn du in den ersten Monaten deiner Selbständigkeit kurz davor bist, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und unter einem Berg von Zitronen, die dir das Leben angeblich schenkt, begraben zu werden, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Gut, es gibt unzählige Möglichkeiten, aber ich möchte nicht über die unzähligen Möglichkeiten schreiben, sondern nur über diese zwei. 

Möglichkeit Nummer Eins: Du gehst nur einen Fuß breit in dich, dahin wo es noch nicht so dunkel ist, an das eine Ende des langen schmalen Flurs mit dem großen Fenster, in der Nähe des Haupteingangs. Nicht an das andere Ende, mit den vielen Türen und dem flackernden Licht, wo du einem schreienden Kind auf einem Bobbycar ausweichen musst, das gerade vor einem Clown flüchtet, der freitags im Home Office als Virtueller Exorzist arbeitet. 

Am Anfang des Flurs ist es hell und da steht ein bequemes Sofa auf der rechten Seite und es gibt immer genug zu Essen, zu den immer gleichen Zeiten und du lässt dich nicht verrückt machen und du gönnst dir zur richtigen Zeit die richtige Pause und wenn das Telefon klingelt, dann gehst du spätestens nach dem dritten Klingeln ran.

Und du schaust nicht nach rechts in die Dämmerung und du  interessierst dich auch nicht für all die Räume, für die Möbel in den Räumen, für die rauen Wände, die Spinnweben, die alten Bücher, die verstaubten Bilder und die herunter gebrannten Kerzen und die Schachteln und den Inhalt der Schachteln. Weil du die Räume schon gesehen hat, als du um das Haus herumgelaufen bist und von außen durch jedes Fenster geschaut hast.

Möglichkeit Nummer Zwei: Du versuchst es für eine kurze Zeit mit Möglichkeit Nummer Eins. Schnell stellst du fest, dass deine Peripherie für den Zweck nicht vorgesehen ist und es dich immer wieder tiefer in den Flur hinein zieht. Du betrittst also den Flur. Müde. Und ohne Proviant. Weil du denkst, dass du in zwei Stunden sowieso wieder zurück bist. Im ersten Raum stößt du auf Dinge, die dich irritieren. Die Schachteln sind beschriftet, aber der Inhalt lässt darauf schließen, dass jemand die Etiketten vertauscht hat.

Du raufst dir die Haare und fragst nach dem Warum. In der Ecke des Raumes steht ein Skelett und der Formlosigkeit des Schädels nach zu urteilen gehört es zu einem weißen, heterosexuellen Mann, der zu Lebzeiten ständig behauptet hat „Aber der Erfolg gibt mir recht!“, dessen Definition von „Erfolg“ aber irgendwie nicht so ausgereift ist.

Du öffnest das Fenster und die frische Luft erinnert dich daran, dass dir speiübel ist, und das Skelett klappert mit den Zähnen und dann will es dir eine Hochglanzbroschüre reichen mit einem ungeschickt formulierten Leitbild und du raufst dir die Haare und fragst nach dem Warum und verlässt den Raum. 

Und dann findest du die Wandtattoos. Vertrauen. Innovation. Latte. Das Macchiato hat jemand heruntergebissen. Das Skelett vielleicht. Oder das Kleinkind.

Und du findest die Schublade mit den Dingern, die man sich an das Handy klemmt, um bessere Selfies machen zu können. Und dann klingelt das Telefon, irgendwo da vorne neben dem Sofa, aber du gehst nicht ran, weil du die unsichtbare Grenze überschritten und dir mittlerweile einen anderen Tagesrhythmus zugelegt hast. Wie früher. Mit 13. In den Sommerferien.

Du gehst erst wieder ran, wenn du den allerletzten Raum betreten hast und das kann dauern, denn du hast noch eine Menge vor dir und jetzt will der Clown dich in ein Gespräch verwickeln. Über Body Positivity. Und du denkst „Für den Anfang tut es Neutralität ja auch erstmal.“ Und du raufst dir die Haare und du fragst nach dem Warum. 

Im nächsten Raum begegnen dir zwei Unternehmensberater, die leidenschaftlich darüber debattieren, zu welcher Uhrzeit Menschen am produktivsten sind und wie viel Geld man einsparen kann, wenn man aus mehreren Drei-Mann-Büros ein buntes Großraumbüro macht. Beide haben Barcodes im Nacken tättowiert und beide unterbrechen ihr Gespräch kurz, um sich dir vorzustellen. Du kannst dir die Namen nicht merken, die Namen spielen auch gar keine Rolle, du erkundigst dich aber mit ehrlichem Interesse nach den weiteren Zukunftsplänen der beiden.

Der eine erzählt dir von dem Bed & Breakfast in den Bergen, das er demnächst, wenn er denn dann soweit ist, renovieren möchte, weil es am Ende immer um Familie und frische Luft und regionale Zutaten geht. Da muss man aber auch erstmal drauf kommen. Das sagt einem ja auch keiner. Die eigenen Gefühle vielleicht, aber wer kann sich das heutzutage noch erlauben? Und der andere erzählt dir von den fair gehandelten Flipflops und dass er schon die Domain dafür reserviert hat. 

Am Ende des Flurs werden dir zwei wichtige Dinge bewusst.

1. Nein sagen

Du wirst dich langsam auflösen und vermutlich in einem der Zimmer in irgendeinem Wandschrank verschwinden, wenn du nur so tust als würdest du dich wichtig nehmen, aber in den entscheidenden kleinen Momenten die falschen Entscheidungen triffst. Wenn du wie eine Aufziehpuppe immer wieder sagst: Ja. Kein Problem. Geht schon irgendwie. Na klar. Mach ich. Krieg ich hin. Ist keine große Sache. 

Jedes unhinterfragte Ja ist eine Ohrfeige gegen dich selbst. Jedes Ja bedeutet, dass du Nein zu deinem Potenzial sagst und zu all den Menschen, die dir vertrauen und die dir eine Chance geben. Dein Ja hilft den Leuten nicht. Kurzfristig vielleicht, aber langfristig definitiv nicht. Du musst dich selber wichtig nehmen, um auch die anderen wichtig nehmen zu können.

Andersherum funktioniert es nicht. Es endet in einer körperlichen und seelischen Erschöpfung, die sich über Wochen und Monate ganz langsam aufbaut. 

2. Generalisten und Spezialisten

Vor einem Jahr habe ich meinen Job gekündigt, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dass andere darüber entscheiden dürfen, wann ich welche Rolle einnehmen soll. Lückenfüller, Vertretung,  Datensammler, Kreativer, Praktikant, Therapeut, fleißiges Bienchen, persönliche Assistentin. Selbst wenn das ihr gutes Recht ist.

Ich habe gekündigt, weil ich Verantwortung übernehmen wollte für mein Leben. Und weil außer mir kein anderer Mensch für mein Wohlbefinden verantwortlich ist oder wissen kann, wie beschissen es mir geht, solange ich nicht in der Lage bin, meine Bedürfnisse nachvollziehbar zu machen.

Ich habe gekündigt, weil die Panikattacken zurück gekommen sind. Ich habe gekündigt, weil ich irgendwann nur noch aus Selbstzweifeln bestand. Und weil ich nicht in der Lage bin, Brände zu löschen für Menschen, die mein Talent, diese Brände zu erkennen bevor sie entstehen, nicht sehen. Nicht sehen können. Weil sie sich um anderen Scheiß kümmern müssen. Um Scheiß, von dem ich nichts weiß. So wie die von meinem Scheiß auch nichts wissen. Und ein Text ändert daran auch nicht viel, denn der Scheiß bleibt graue Theorie, praktisch bleibt man relativ unbeteiligt.

Die Panikattacken sind verschwunden. Die Selbstzweifel sind geblieben. Auch das ungesunde Verhalten, vor allem die oben beschriebene Unfähigkeit, im richtigen Moment Nein sagen zu können.

Ich dachte, meine größte Herausforderung als selbständige Grafikdesignerin, wäre es, Aufträge zu bekommen. Die Wahrheit ist: Mein Gehirn ist meine größte Herausforderung. Dieses Gehirn gaukelt mir ständig vor, dass ich mir ein Spezialgebiet suchen muss. Das Internet trägt seinen Teil dazu bei. An jeder Ecke begegnen dir kreative Menschen, die offenbar seit Jahren ganz erfolgreich immer diese eine Sache machen. Der Illustrator mit dem unverkennbar eigenen Stil, den du unter tausenden widererkennen würdest. Die Grafikerin, die Webseiten baut für Kleinunternehmerinnen in Heilberufen. Der Typ, der scheinbar all sein Geld mit Ebooks verdient, in denen er den Leuten erklärt, mit welchen Hashtags sie auf Instagram Erfolg haben. 

Spezieller geht es ja irgendwie nicht mehr. Und dann komme ich und mache mich selbständig. Als Pixelraupe. Geht ruhig auf die Homepage und schaut euch diese – Entschuldigung – unfertige Scheiße an. Ich bin momentan soweit zu sagen: Es ist ok. Denn das ist ja der Punkt. Ich bin unfertig, auch wenn ich mich manchmal ziemlich fertig fühle, und ihr seid es auch, glaubt mir, ihr seid es, wir werden alle gemeinsam unser Leben lang unfertig sein, und das ist beängstigend und wunderbar und alles in allem ziemlich ok. Aber zurück zum Thema.

Ich mache mich also selbständig. Eine Scannerpersönlichkeit, introvertiert, intuitiv, eine Nachteule, eine Scheiß Mischung aus zu viel und zu wenig Temperament, gelernte Grafikerin, aber mein Herz besteht nicht nur aus Bildern und Farben, ein nicht unerheblicher Teil besteht aus Worten, weil Worte – richtig eingesetzt – der schönste Umweg sind hin zu schöneren Bildern und intensiveren Farben. Es ist ein Fluch und ein Segen zugleich.

Die Wahrheit ist: In den ersten Monaten meiner Selbständigkeit kamen mir meine Tage vor wie dieses oben beschriebene kopflose Herumirren von Raum zu Raum. Ich stehe immer noch in diesem Haus in einem dieser Räume und werfe hilflose Blicke in einzelne Schubladen eines Apothekerschranks. Und das was mir bisher am allermeisten die Laune verdorben hat – neben meiner angeborenen Unfähigkeit, das Wort „nein“ zu denken, geschweige denn auszusprechen – war das Thema Positionierung. 

Positionierung im herkömmlichen Sinn funktioniert nicht, wenn du Generalist bist und dich gerade im kreativen Bereich im ländlichen Raum selbständig gemacht hast. Positionierung lähmt dich, wenn du die Sache falsch angehst.  Wenn du denkst, dein Problem wäre, dass du zu perfektionistisch, zu schlecht, zu blöd, zu unsicher oder sonst etwas bist, dann kann es sein, dass du dir einfach nicht die Zeit genommen hast, dich zu fragen, ob du zu den Spezialisten oder zu den Generalisten zählst und was das jetzt konkret bedeutet.

Ich liebe meinen Beruf. Aber das weiß ich erst seit ein paar Wochen wirklich. Ich mache ihn seit fast fünfzehn Jahren, aber erst eine Zwangspause im August mit 0 Euro Umsatz hat mir gezeigt, dass ich ihn liebe und dass das nur gelingt, wenn ich unabhängig von der Meinung anderer definiere, was er bedeutet. Und damit kämpfe ich gerade und es fühlt sich so an als hätten meine Tage nicht genug Stunden.

Ich liebe meinen Job unter der Voraussetzung, dass ich mich nicht spezialisieren und in irgendeine Nische zwängen muss. Und auch wenn viele Menschen der Meinung sind, dass der Grafik-Designer derjenige ist, der in ein Haus kommt und da frische Blumen auf den Wohnzimmertisch stellt und die Gardinen wechselt, der also Dinge schön macht. Diese Person werde ich, ob ihr es glaubt oder nicht, niemals ausschließlich sein, auch wenn mir diese Arbeit immer wieder Spaß macht. Ich kann das jeden Tag mehrere Stunden lang machen. Aber eben nicht nur. Ich bin von Natur aus eher der Mensch, der das Haus betritt, sich umschaut und dann manchmal zu dem Ergebnis kommt, dass es sinnvoller ist, erstmal einen Container vor dem Haus aufzustellen und einen Haufen Zeug aus dem Fenster zu schmeißen. Und das hat viel mit Zuhören zu tun. Mit Beobachten. Mit dem Erkennen von Zusammenhängen. Mit dem Lesen von Fußnoten. Mit der Bereitschaft Fragen zu stellen, statt Argumente vorzubringen. Das kommt meistens nicht wie aus der Pistole geschossen. Das ist eher ein Bogen, den man erstmal spannen muss. 

Ich liebe es, Dinge zu sortieren, Dinge zu sammeln, zu suchen, Daten zu analysieren. Wenn das dabei hilft, etwas oder jemanden besser zu verstehen. Wenn es der Sache dient. Ich hasse es, dieselben Dinge aus der Not heraus zu tun, weil das Ur-Prinzip „Wenn alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich.“ mal wieder alle Schiffe versenkt. Ich mag Menschen, die wissen, was für eine große Rolle der Kontext spielt. Dass Menschen vollkommen andere Entscheidungen treffen, sich anders verhalten, wenn sie frei wählen können. All das hat mit Design scheinbar nichts zu tun. Aber die Grafik-Designer, deren Namen man kennt, diejenigen, die das seit dreißig oder vierzig Jahren machen, das sind diejenigen, die sich in erster Linie für Menschen interessieren, nicht für die Schönmacherei. Und nicht selten sind das auch Leute, die mit Worten umgehen können. Die die Inhalte ernst nehmen. Weil Design ohne Inhalt Dekoration ist.

Produktentwickler John Cutler hat in einem Text auf Medium mal geschrieben:

„Engineers and designers are trained problem solvers (and problem definers/explorers, and systems thinkers, and cost/benefit analyzers, etc). They can sniff out incoherence a mile away, even if it isn’t their individual area of focus and expertise. So, while a designer may not be a “business expert”, they’re likely able to sense a business strategy that doesn’t add up. They can also tell when someone is flat out guessing.

When they (engineers and designers) repeatedly can’t see the impact of their work, or impact is wrapped in success theater, or the product manager’s actions are incoherent, or explanations are weak and opaque…they are likely to start losing faith and trust. Even small and innocent things can be a trigger.“ 


Der Mann hat recht. Aber so recht glauben will das niemand, weil es nicht in das Bild vieler Menschen passt. Man muss sich trauen, das der Welt auch zu beweisen, auf die ein oder andere Art. Und man muss wissen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, die Methoden anderer zu ignorieren und wieder nach den eigenen Prinzipien zu handeln. 

Was das für meine Arbeit und mein Leben bedeutet? Ich werde anderen möglicherweise in naher und ferner Zukunft eher erklären können warum Dinge geschehen oder nicht geschehen sind. Ich werde mit dem vagen Gefühl leben, mich manchmal unbeliebt zu machen, und hoffentlich und vielleicht manchmal mit der Hilfe von Menschen, die mich wirklich gut kennen, feststellen, dass ich damit leben kann und dass sich viele Sorgen nicht bewahrheiten.

Ich werde Ausflüge in andere Welten nicht mehr als Ausflüge betrachten, sondern als etwas, das fest zu mir gehört. Vor allem, wenn es mir viel Energie zurück gibt. 

Ich werde meine Aufmerksamkeit anders einteilen und das bedeutet, dass ich endlich akzeptieren muss, dass mein Motor, mein größter Antrieb sich für andere manchmal anfühlt wie eine Bremse. Und das möchte ich nicht. Ich will nicht, dass der Generalist und der Idealist in mir meinen momentanen Berufsalltag behindern. Deshalb muss ich ihnen Raum geben und ich muss mich um sie kümmern und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Aber ich werde Ihnen nicht mehr erlauben, ständig auf meinem Schoß zu hocken, wenn ich am Schreibtisch sitze. Es sei denn, ich treffe die bewusste Entscheidung.

Es bedeutet, dass ich die Zusammensetzung der Zutaten, mit denen ich täglich arbeite, anpassen und nicht jedes mal automatisch meine geheime Lieblingszutat aus dem Schrank holen muss. Die Zutat die viele nicht kennen, von denen einige etwas ahnen, und mit der nur ein kleiner Kreis von Menschen wirklich etwas anzufangen weiß – und es ist übrigens nicht Dill, denn Dill versteht wirklich keine Sau. Diese Zutat, die jeder Mensch besitzt, muss man beschützen und einen bewussten Umgang mit ihr pflegen. So pathetisch das klingt und egal wie hart das ist für jemanden wie mich.

Es bedeutet auch, dass ich mich in den nächsten Wochen dazu zwingen muss, wieder mehr zu schreiben, an verschiedenen Orten, um wieder ein Gefühl für die Dinge zu bekommen, die mich antreiben. Um zu überzeugen. Um zu informieren. Um Impulse zu geben. Um Menschen manchmal auch das Alleinsein erträglicher zu machen. Wenn ich schreibe, dann reagiert mein Körper wie der Körper eines kerngesunden Menschen. Wenn ich schreibe, dann kann ich überzeugend sein. Wenn ich schreibe, dann interessieren mich trommelnde Finger, ungeduldige Blicke und blinde Flecken nicht. 

Darauf freue ich mich. Ich sage danke für eure Aufmerksamkeit. Steht zu eurem Gehirn und seid gut zu euch selbst. 

Weiterhin alles Gute
Eure Franziska

 

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Crisis & opportunity

Die zwei Fliegen tanzen noch eine Weile um mich herum, lassen sich auf Unterarm und Hand und auf der Nasenspitze nieder, als würden sie mich testen wollen. Als würden sie wissen wollen, ob ich das jetzt wirklich ernst meine. Sie starren mich an, sie starren mich an, während sie krabbeln, und ich glaube, sie tauschen auch heimlich Blicke aus. Das können Fliegen sehr gut, sie haben besondere Augen. 

Als die Atemzüge tiefer und die Gedanken weniger werden, ziehen sie sich zurück, als hätten sie sich abgesprochen, als wüssten die Biester jetzt alle beide: Das wird heute nichts mehr, die meint das ernst mit ihrer Meditation auf der Eckbank in der Küche. 

Ich atme und atme und atme und finde, dass alles irgendwie zu viel ist. Innen und außen. Zu viel Druck. Zu viele Erwartungen. Zu viel Tamtam. Zu viel Perfektionismus. Zu viele Menschen, die glauben zu wissen, was ein anderer gerade braucht, denkt, will oder ist. Und das mag sich etwas komisch anhören, immerhin muss ich kein Kind in den Kindergarten bringen, meinem Mann kein Brot schmieren, ich bin keine Eiskunstläuferin oder jemand mit Personalverantwortung. 

Nachmittags schreibe ich all die Dinge auf, die in den letzten drei Monaten irgendetwas mit mir gemacht haben. Gespräche, die ich geführt habe. Fragen, auf die ich noch keine Antwort gegeben habe. Menschen, die sich vor meinen Augen in ein anderes Licht gerückt haben. Erkenntnisse, die ich hatte. Menschen, die mir unwichtige Organe entnommen oder mir Blutergebnisse mitgeteilt haben, auf die ich 17 Monate lang gewartet habe. Fragezeichen, die ich seit mindestens sechs, eigentlich sogar 34 Jahren mit mir herum geschleppt habe in einem Rucksack, der mir viel zu groß und schwer ist, aber an den ich mich irgendwann gewöhnt habe, so wie man sich an alles gewöhnt, wenn man nicht aufmerksam ist. 

Worte, die ich zu Bett schicken muss, damit Leute, die zu müde sind, bei jeder Begegnung neu Maß zu nehmen, sich nicht schlecht fühlen. Die eigene verdammte Feigheit. Die verdammte Feigheit der anderen.

Morsezeichen meines Körpers. Energien, die ich plötzlich wahrnehme und das kannst du ja keinem erzählen, der nur an die Dinge glaubt, die man hören und sehen und anfassen kann, der nur an Sirenen und Blumenkohl und Brüste glaubt. Das kann man keinem erzählen, wie das ist und wie das damals war, irgendwann im Sommer 2015, mit den Händen im Spülwasser und diesem plötzlichen Sauerstoffmangel, der sich im Raum ausbreitet. Und den ich danach nie wieder so intensiv gespürt habe. Dachte ich jedenfalls.

Es sind 34 Punkte geworden. Abends kommt noch ein 35. Punkt hinzu, wie eine Fußnote, nicht laut und polternd, sondern leise, kein Befehl, keine Überschrift, eher ein Vorschlag. Eine Fußnote eben. Wenn du willst, kannst du dir über diesen Punkt auch noch Sorgen machen. Wenn du möchtest, werden alle vorherigen Punkte plötzlich klein, lösen sich auf, verschwimmen vor deinen Augen. Du entscheidest. 

Irgendwo da draußen, in der Welt und im Netz und Gott sei Dank manchmal auch direkt vor meiner Nase, gibt es Menschen, denen man all das nicht umständlich erklären muss. Die sich wenigstens ein bisschen selber kennen, die sich hinterfragen, die sich wichtig nehmen und deshalb nicht immerzu allen beweisen müssen, wie wichtig sie sind. 

Ich bin müde. Wie jemand, der seit 15 Jahren darauf wartet, einen angefangenen Gedanken zu Ende zu denken. Wie jemand, dem man immer nur zwei Wochen Urlaub gewährt hat. Nie verdammte drei Wochen. Wie jemand, der gerade mühsam lernt, wie das wirklich funktioniert, wenn man sich selbst wichtig nimmt.

Ich bin müde, weil ich seit vier Wochen weiß, dass Müdigkeit mir in den Genen liegt. Ich bin müde, weil mir das niemand gesagt hat und ich es selbst herausfinden musste. Ich bin müde wegen all den Menschen, die sich in den anderen spiegeln und die einander das vorwerfen, worunter sie selbst am allermeisten leiden. Ich bin müde wegen all der Hashtags, die aussehen wie niedliche kleine Gefängnisgitter.

Und ich bin dankbar. Und leer. Ich weiß nicht, ob ich jemals so müde gewesen bin, ob ich jemals mit so wenig Luft ausgekommen bin, aber die Leere ist gut. Ich würde sie vielleicht gar nicht erkennen, könnte nichts aus ihr lernen, wenn ich nicht so müde wäre.

All die Hilfswerkzeuge, die ich normalerweise mit mir herumtrage, liegen gerade fein säuberlich vor mir aufgereiht auf einer Werkbank. Der Sarkasmus, jede Entschuldigung, jeder Automatismus, die Wut, jedes Vorurteil, jede Luftpumpe und jeder Schleifstein. Dinge, die ich nutze, um mich kleiner oder größer zu machen für andere. 

Und da ist noch Platz auf der Werkbank. Da werden noch einige Hilfsmittel landen und ich werde sie nicht mehr jeden Tag automatisch mit mir herumschleppen und das ist ein gutes Gefühl. Es ist gut, weil ich ohnehin keine schweren Rucksäcke mehr tragen darf. Es ist gut, weil da jetzt freie Fächer sind, die gefüllt werden können mit belegten Broten und etwas, was ohnehin schon immer da war.

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Im Porzellanladen #3

Minutenlang eine Kinderzeichnung betrachten, um herauszufinden, wie es um die Zukunft des Landes steht. Auf ein Danke warten, wie jemand, der gerade erst geboren wurde, obwohl zwei oder drei kluge Menschen gesagt haben, dass das sinnlos ist. Dem Wort Ent-Täuschung neu begegnen. Immer wieder den gleichen Test nicht bestehen. Sich fragen, ob die das eigentlich wirklich nicht wissen, die Institutionen, so nenne ich das jetzt mal, ob die das nicht wissen, wie sehr sie eingreifen, über Umwege, in das Leben von Familien, in den Schlafrhythmus, in die Gedanken, in die Regale in den Schränken in den Küchen der Menschen.

Ich will über Müdigkeit schreiben, aber man kann über Müdigkeit gar nicht so gut schreiben, denn wenn man das Bedürfnis hat, über Müdigkeit zu schreiben, bedeutet das, dass man selber müde ist und da wo früher ununterbrochen halbe Sätze durch meine Adern flossen, fließt heute nur noch lauwarme Buchstabensuppe.

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Überall begegnen einem kompetente Frühaufsteher, die auf alles eine Antwort haben. Ich will mal einem begegnen, der die Antwort nicht kennt, sich aber traut, ein paar Fragen zu stellen. Ich will mal einen treffen, der noch erschöpfter ist als ich. Der beim Haaretrocknen nach dreißig Sekunden den Föhn ablegen muss, weil der Arm so weh tut.

Ich will mal einem freundlichen Menschen begegnen, der das auch wirklich so meint. Nicht dieser Knigge-Scheiß. Einem der neben mir sitzen bleibt und wissend nickt, wenn ich davon erzähle, dass die Gesellschaft im allgemeinen dazu neigt, menschliche Stärken in Klassen einzuteilen. In chaotischen Situationen einen kühlen Kopf bewahren, das ist eine Stärke erster Klasse. Gute Beobachtungsgabe besitzen, um solche Situationen möglicherweise verhindern zu können, das ist eine Stärke zweiter Klasse. Manche Personen besitzen beides und dann wünscht man sich, dass etwas davon auf einen selbst abfärbt, aber Wünsche haben einen Menschen noch nie weitergebracht. Das einzige, was Menschen weiterbringt ist das Überwinden der Telefonangst.

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Mit welcher Geduld Leute einander dabei zuschauen können, wie ihnen alles um die Ohren fliegt. Mit welcher Ruhe und Gelassenheit sie sich unter den Zaunpfählen begraben lassen, die auf ihre Köpfe herunter regnen. Mir ist das nie bewusst gewesen. Dass auch die anderen erschöpft sind. Zu erschöpft, um zwischen den Zeilen zu lesen. Zu müde für die Fußnoten. Aber auch zu erwachsen um es zu zeigen Und so lassen wir einander im Glauben, man wäre mutterseelenallein auf dieser Welt.

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Realität – Ofenkäse = Sehnsucht

Ich war gestern eine von fünf Personen, die bei #mimimimi mitmachen durften. Das ist der Titel einer Lesung, die seit 2013 in Bonn von Sylvia Rang und Johannes Mirus organisiert wird. Es war in vielerlei Hinsicht ein richtig toller Abend, darüber werde ich aber hoffentlich bis morgen Abend noch etwas schreiben. Der Text, den ich vorgelesen habe, ist eine Mischung aus Gedanken, die ich mir vor mehr als einem Jahr nach einem Einkauf bei Rewe mal gemacht, aber nie „ins Reine geschrieben“ habe, und einem alten Blogbeitrag, den ich im Februar 2017 veröffentlicht habe. 

Letzte Woche stand ich unfreiwillig lange im Rewe vor dem Kühlregal. Ich hatte den Laden betreten in der Hoffnung, mal eben schnell innerhalb von fünf Minuten Ofenkäse zu kaufen. Ich verließ ihn wieder mit der Erkenntnis, dass der Ofenkäse ausverkauft ist und dass die Welt mehr den je auf ganz normale, harmlose Menschen wie mich angewiesen ist.

Ausverkauften Ofenkäse gab es in meinem Leben bisher nicht und ich sage euch, ich habe schon einiges erlebt. Ausverkauftes Trockenshampoo zum Beispiel. Oder dass es die mittelharten Zahnbürsten nicht mehr in meiner Lieblingsfarbe Hellblau gibt, dafür aber viele weiche grüne und einige harte Rote.

Ich tat dann, nachdem ich zehn Minuten lang meine Stirn in nachdenkliche Falten gelegt hatte, etwas für mich vollkommen natürliches: Ich kaufte Fischstäbchen, ging zum Auto und stellte mir die entscheidende Frage. Warum gibt es einen Rewe-Lieferdienst, aber keine App, die mir Bescheid sagt, dass der Ofenkäse ausverkauft ist? Weil, man könnte so viel bewirken in der Welt, wenn man nicht immer unnötig vorm Kühlregal herumsteht.

Folgendermaßen könnte das ablaufen.

Montag: Der Rewemarkt bekommt haufenweise Ofenkäse, der von entspannten Verkäuferinnen in das dafür vorgesehene Kühlregal gelegt wird. Irgendeine künstliche Intelligenz registriert, dass im Kühlregal 10 Ofenkäse liegen und sich weitere 20 im Lager befinden.

Dienstag: Sechs Leute haben Ofenkäse gekauft. Die künstliche Intelligenz schickt eine Nachricht an die für Nachschub zuständige Person oder eine andere künstliche Intelligenz, damit das Regal wieder aufgefüllt wird.

Mittwoch: Weitere 23 Personen, denen ihre Gesundheit vollkommen gleichgültig ist, kaufen Ofenkäse. Zeitgleich kehren einige Kardiologen aus ihrem wohlverdienten Sommerurlaub zurück.

Donnerstag: Die Ofenfrische mit Thunfisch ist heute im Angebot. Kein Mensch interessiert sich für den Ofenkäse.

Freitagmorgen: Irgendein selbstsüchtiges Arschloch betritt den Rewe und nimmt den allerletzten Ofenkäse. Die künstliche Intelligenz sendet ein Signal an die intuitiv bedienbare, megacoole App rewe buy & chill.

Ich habe die App auf meinem Handy installiert und natürlich mit fünf Sternen bewertet, weil sie mir den Alltag wirklich sehr erleichtert. Sie schickt mir nicht nur Angebote, sie gibt mir auch die Möglichkeit, mich mit attraktiven Rewe-Kunden in meinem Umfeld zu vernetzen, die zum Beispiel die gleichen Teesorten und Marmeladen oder Brötchenhälften mögen wie ich.

Doch die allertollste Funktion kennt ihr noch gar nicht.

Denn: Am Freitagnachmittag einigen mein Komplize und ich uns darauf dass es heute Abend Ofenkäse gibt. Ich öffne meine megacoole rewe buy & chill App, die mir den Alltag wirklich sehr erleichtert, und gebe „ofenkäse“ in das Suchfeld ein. Auf meinem Display erscheint daraufhin der Hinweis, dass es in meinem Lieblings-Supermarkt heute keinen Ofenkäse mehr gibt, ich aber die Möglichkeit habe, eine Alternative zu kaufen. Camembert zum Beispiel. Davon gibt es noch fünfzehn Packungen. Oder ich kaufe den Ofenkäse in einem anderen 7 km entfernten Supermarkt, kann ihn dort sogar für die nächsten 2 Stunden reservieren. Ernsthaft. So toll ist diese App!

Vielleicht entscheide ich mich auch für etwas ganz anderes. Zum Beispiel könnte ich mit den Resten daheim noch eine Mahlzeit kochen. Ich öffne die total praktische Resteessen-Funktion, die seit dem letzten Update wirklich einwandfrei funktioniert und erhalte zunächst eine Push-Nachricht, in der ich gefragt werde, ob ich immer noch eine Nussallergie habe und was mit der halb angefangenen Packung Haselnüsse passieren soll, die in der Schublade neben den Muffin-Förmchen liegt.

Ich habe die Möglichkeit, es zu ignorieren, einen Termin beim Ernährungsberater zu machen oder mir von einer Drohne ein Anaphylaxie-Notfallset vorbeibringen zu lassen. Das kann die App alles. Deshalb bezahlt man dafür auch 4,99 Euro.

Was ich sagen will: Natürlich möchte ich nicht, dass Rewe, oder die AOK oder mein Stromanbieter Zugriff auf alles haben, was in meiner Küche passiert. Natürlich möchte ich nicht für Ofenkäse zum gläsernen Bürger werden. Natürlich möchte ich nicht fünf Minuten Zeitersparnis gegen Totalüberwachung eintauschen.

Aber wäre es nicht herrlich, wenn wir so langsam mal an einen Punkt kämen, an dem die Möglichkeiten der Digitalisierung uns im Alltag wirklich etwas zurückgeben würden?
Wie viele Formulare sollen wir noch runterladen, ausdrucken, ausfüllen und zur Post bringen? Welche Berge müssen wir versetzen, wie viele halbe Tage Urlaub nehmen, damit der verdammte Sperrmüll abgeholt, unser Nebengewerbe angemeldet oder der Förderantrag genehmigt ist?  

Und wie kann es sein, dass so wahnsinnig viele Menschen, vor allem ältere Generationen in der Provinz, damit viel entspannter umgehen als ich? Die Antwort liegt auf der Hand: Sie kennen es nicht anders. Und sie ahnen nicht, dass sie es möglicherweise verdient haben, ein bisschen Zeit und Energie zu sparen.

Und sie wüssten vielleicht auf Anhieb auch gar nicht, was sie mit der gewonnenen Zeit und Energie anstellen. Der leere Raum würde sie verunsichern. Solche Leute gibt es. Vielleicht nicht so viele hier in Bonn, aber da wo ich lebe, gibt es Menschen, die so Sätze sagen wie “Ich hab jetzt drei Wochen Urlaub. Nach fünf Tagen wird mir bestimmt die Decke auf den Kopf fallen.” Oder: “Warum willst du dir einen Staubsauger-Roboter kaufen? Hast du zuviel Geld?!”

Ich hab nicht zuviel Geld. Ich hab zu wenig Zeit. Ich will spazieren gehen und ein Instrument lernen und die Schneegänse beobachten und Malkurse besuchen und Kurse in gewaltfreier Kommunikation, damit ich nicht immer alle Leute beleidigen muss, und ich will mich über Garten-und Landschaftsbau informieren, gründlich, und mich einer Pfadfindergruppe anschließen und natürlich will ich auch programmieren lernen, wegen der App für Rewe.

Ich will – vereinfacht gesagt – nicht ständig mit Fragezeichen im Kopf vorm Kühlregal herumstehen.  Ich will ab und zu in meiner eigenen Welt leben. Und damit wirke ich natürlich wie ein komischer Vogel in den Augen derjenigen, die sich ihrer eigenen Zeitverschwendung und Freizeitpassivität gar nicht bewusst sind.

Vor einer Weile habe ich einen Text geschrieben, der vielleicht veranschaulichen kann, warum es durchaus ok ist, hin und wieder in seiner eigenen Welt leben zu wollen und sich deshalb über vergeudete Zeit im Alltag aufzuregen.

In dem sehr empfehlenswerten Film „The Departed“ sagt Mafiaboss Frank Costello, gespielt von Jack Nicholson, ganz am Anfang einen sehr schönen Satz: Ich möchte nicht das Produkt meiner Umwelt sein. Ich möchte, dass meine Umwelt ein Produkt von mir ist.

Nun ist dieser Mensch in dem Film nicht gerade ein Vorbild für gutes Benehmen, aber unabhängig davon können wir uns diesen schlauen Satz trotzdem ruhig mal etwas näher anschauen. Dahinter verbirgt sich nämlich ein riesengroßes Missverständnis. Nämlich, dass es pauschal erstmal verdächtig ist, in seiner eigenen Welt zu leben oder seine Umwelt zu beeinflussen, statt sich von ihr beeinflussen zu lassen.

Als Kind und Jugendliche war es mir oft eine Freude, Erwachsenengespräche zu verfolgen. Ich saß wortlos auf dem Sofa, nippte am Kakao und lauschte und lernte. Hin und wieder unterhielten sich die großen Menschen über andere mir fremde Personen. Den Freund von einer Freundin oder die Tante XYZ oder die neuen Nachbarn. Und in ihren Worten klang immer ein bisschen Geringschätzung mit, wenn sie den Satz sagten, um den es mir geht: „Der lebt halt in seiner eigenen Welt.“

Man spürte, derjenige wurde irgendwie toleriert, neugierig beäugt, immer höflich auf Abstand gehalten. Oft ging es um unausgesprochene Regeln, um Konventionen, mit denen angeblich gebrochen wurde, um „so Künstlertypen“. Und wir sprechen hier nicht von Leuten, die in irgendeinem Baumhaus außerhalb des Dorfes leben, sich nicht die Haare waschen und zuhause einen Hildegard-Orgon-Akkumulator neben ihren Staffeleien stehen haben. Wir reden von Menschen, denen einfach nur nicht so schnell langweilig wird. Die etwas mit sich anzufangen wissen. Die die Frechheit besitzen, ab und zu mal in ihrer eigenen Welt zu leben.

Weil: Wo wollen wir denn sonst leben, wenn nicht in unserer eigenen Welt? Warum ist „Du lebst in deiner eigenen Welt“ nicht ganz offiziell eines der schönsten Komplimente, die man einem anderen Menschen machen kann? Sind Leute, die nach ihren eigenen Maßstäben leben, nicht eine Wohltat? Also, mal abgesehen von Donald Trump und Horst Seehofer, die leben ein bisschen zu sehr nach ihren eigenen Maßstäben.

Brauchen wir in Zukunft nicht mehr ganz normale Menschen, die sich Gedanken darüber machen, in welcher Welt sie einmal leben wollen? Sollen wir uns stattdessen in der Welt einer anderen Person einrichten? Ihr vielleicht auch noch die volle Verantwortung für unser Leben geben? Stehe ich dann jeden Morgen auf und warte darauf, dass mir jemand eine Bedienungsanleitung für mein eigenes Leben neben mein Kopfkissen legt, während ich zum neunten Mal die Snooze Taste drücke?

Und werde ich dann motzig, wenn Wochenende ist, und mir das Programm nicht gefällt, um das ein anderer sich bereitwillig gekümmert hat?

In seiner eigenen Welt leben – das ist eine gute Sache. Nicht pausenlos, nicht unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf Verluste, aber so oft wie möglich, immer mal wieder, mit kleinen Unterbrechungen. Das ist nicht egoistisch, das ist verantwortungsbewusst. Es geht um Verantwortung für das eigene Leben, die eigene Lernkurve, das eigene Umfeld.

Natürlich besteht da immer die Gefahr, dass man ab und zu ein paar bescheuerte Fragen beantworten muss. Vor ein paar Jahren wollte mal jemand von mir wissen, ob ich denn mein erstes Buch „Die wunderbare Welt der Franzi“ nennen werde. DIE WUNDERBARE WELT DER FRANZI. WAS ZUM GEIER?!!!

Ich lächelte verhalten und dachte: Du blödes Arschloch. Die Frage klang wie ein Angriff, wie ein Vorwurf, mein Gehirn übersetzte das ganze mit „Warum bist du eigentlich so sonderbar?“ Warum bist du so eine trübe Tasse, warum schreibst und liest du so viel, warum sieht man dir den Zweifel manchmal an, warum gerätst du manchmal ins Stocken? Warum lebst du in deiner eigenen Welt? Warum machst du dir Gedanken darüber, wie du deine Zeit nicht an der Kühltheke verschwendest?

Weil es vielleicht mein gutes Recht ist. Und dasselbe gilt für dich. Also hör auf, deine Arschbacken zusammen zu kneifen und frag dich ab und zu vorm Schlafen gehen mal, nach welchen idiotischen Regeln einer anderen Person oder Gruppe du lebst und wie lange du das noch durchziehen möchtest.

Und wenn du jemanden zum Reden suchst, dann bring Baguette mit, ich besorge den Käse und dann sprechen wir mal darüber, wie schön das ist, das eigene Gehirn als gelegentlichen Zweitwohnsitz anzumelden. Weiterhin alles Gute, eure Franziska.

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Im Porzellanladen #2

Da war diese andere Seminarteilnehmerin, vergangenen November in Berlin, die in die Runde gefragt hat, ob hier jemand twitter privat benutzt. Sie versteht den Sinn dahinter irgendwie nicht, betreut aber den Twitter-Account ihres Arbeitgebers. „Ich liebe twitter.“ war meine Antwort, und das meine ich sogar nach zehn Jahren immer noch ernst. Und dann habe ich versucht, ihr auf eine sehr umständliche Art und Weise zu erklären, was an twitter nun so toll ist. Der Wortwitz, die unterschiedlichen Menschen, die Dinge, die sich daraus entwickeln.

Meine Erläuterungen müssen sie nicht überzeugt haben. Das ist nicht verwunderlich, meine Erläuterungen überzeugen in der Regel niemanden, es ist eine meiner vielen Superkräfte, die sich irgendwann entladen werden, wahrscheinlich in einem Rhetorik-Seminar, das ich notgedrungen besuchen werde.

„Ich hab ja eigentlich genug echte Freunde im Leben.“ war ihre einleuchtende Antwort. Ich fühlte mich wie ein wunderlicher Miley-Cyrus-Fan. Immerhin durfte ich sie dann guten Gewissens unsympathisch finden. Und vielleicht hat sie twitter ja mittlerweile begriffen. Oder man hat ihr einen Job gegeben, in dem sie nicht mit dem Internet verbunden sein muss.

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Irgendwann spürt man, dass etwas anders ist. Etwas hat sich verändert und man merkt es an den neuen Wegen, die man plötzlich zurücklegt. Die Adressen, die man in das Navigationsgerät eingibt. Die Gastgeschenke. Das Verzichten darauf. Die Playlists und die Unterhaltungen, die man unterwegs führt oder nicht führt. Die Bücher, die man aus dem Regal holt, von denen man vor zwei Jahren dachte, man hätte etwas daraus gelernt, irgendetwas fürs Leben mitgenommen, und jetzt ist man nur noch froh, dass man diese „Wir können alles schaffen, wir müssen nur wollen.“-Scheiße nicht geglaubt hat.

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Ich werde in diesem Jahr keine Bastelarbeiten machen. Und auch nicht unnötig Sprit verbrauchen. Und nicht am Schreibtisch sitzen und mir unzählige Gedanken machen über all die unsichtbaren Dinge, für die ich nicht verantwortlich bin, für die ich mich aber naturgemäß häufig verantwortlich fühle, weil ich einer dieser nervigen „Könnten wir nicht und sollten wir nicht?“-Menschen bin, die immer sinnvoll, aber manchmal nutzlos sind. Ich werde mir nicht ständig den Kopf darüber zerbrechen, wer nun verantwortlich ist. Ich werde mir einen Raum schaffen, in dem ich verantwortlich bin, niemand sonst, und ich werde mich so oft wie möglich in diesem Raum aufhalten.

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Letztes Jahr ist mir dieser Spruch begegnet. Und er hat mir, neben einigen anderen Dingen, also den üblichen Verdächtigen, Katzen, Bier, frische Luft, er hat mir also ein bisschen das Leben, setzen wir es mal in Anführungszeichen, „gerettet“. Ich hab ihn seitdem an drei oder vier Menschen weitergegeben, an gute Freunde, an alte Bekannte. „Perfectionism is a serial killer.“ Er schwimmt noch an der Oberfläche, er konnte noch nicht richtig sacken, dieser Spruch, aber er geht jetzt immer öfter einfach so mit mir mit und hakt sich hin und wieder ein und wenn ich Angst habe, verrückt zu werden, schließt er einen Tab für mich.

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Vielleicht habe ich das Ehlers-Danlos-Syndrom. Das klingt so groß und so fremd. Bis vor einer Woche war ich noch ein Mensch, der zu neugierig und manchmal auch ein bisschen zu clever und hartnäckig ist und dem das Leben zu viele Puzzleteile vor die Füße geworfen hat. Ich war jemand, bei dem Angst und Mut sehr nah beieinander liegen. Sie berühren sich ständig, immer ist da sehr viel Angst und immer ist da auch sehr viel Mut. Jetzt bin ich ein Mensch, der auf Blutergebnisse wartet und bald einen CT-Termin hat. Ich bin jetzt auch jemand, der sich einen Termin beim Psychologen geholt hat. Weil ich das alles nicht alleine schaffen kann. Und auch nicht möchte. Diese Krankheit. Diese Gesellschaft. Diese ständige Frage, ob ich Teil einer Extra3-Dokumentation bin.