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Kopf

Irgendwas mit Explosionen.

„Ich bin gespannt darauf, welche Märchen ich mir denn in 2021 erzählen werde.“ schreibe ich am letzten Tag des Jahres 2020 in mein Notizbuch.

Zweieinhalb Jahre später explodiere ich. Erstaunlich leise und effizienter als ich es mir damals vermutlich zugetraut hätte. Ich hab die Märchen seziert und etikettiert und die Etiketten wieder abgerubbelt und neu etikettiert und erkannt, dass ich sie jetzt nicht etikettieren, sondern erstmal kneten und ausrollen und wieder kneten und in eine Schüssel tun und mit einem Tuch bedecken und an einem kühlen Ort ungestört gehen lassen muss wie Hefeteig.

Die Märchen sind ziemlich universell, nichts besonderes, aber sie fühlen sich speziell an und ich gewöhne mich täglich aufs Neue an den Gedanken, dass jeden Morgen so viele Menschen mit den gleichen Märchen im Kopf aufwachen.

Wer dich versteht, der braucht keine Erklärung von dir. Wer dich nicht versteht, für den wird keine Erklärung dieser Welt genug sein.

Ich denke über alle meine hilflosen, aggressiven, passiven, passiv-aggressiven, verzweifelten, lauten, leisen, wiederholten, schriftlich oder mündlich vorgetragenen Erklärungsversuche der letzten zehn Jahre nach. Vor zehn Jahren hab ich mich zum ersten Mal gefragt, ab wann der Lärm der Welt einen Menschen krank machen kann.

Heute weiß ich: Ich hatte recht, das war eine verdammt gute Frage, ich hatte recht und ich bekomme diese Zeit nie mehr zurück. Und mit diesem Gedanken leben andere, schönere Gedanken nun für immer in einer sehr chaotischen Wohngemeinschaft zusammen.

Ich bekomme diese Zeit nicht mehr zurück. Und sie ignoriert den sorgfältig ausgearbeiteten Putzplan in meinem Kopf und sie schuldet den anderen WG-Mitgliedern Geld und sie verteilt ihre Schuhe im Flur, aber wenn man ihr zuhört und ihr vertraut, dann kocht sie für dich und sie bringt dich zum Lachen und zum Weinen und sie ist die einzige, die weiß, wie man den Feuermelder abstellen kann.

Ich bin, weil ich immer noch so unglaublich leise explodiere, und so unlogisch es klingt, energiesparend unterwegs, weil ich es muss und weil ich es will. Weil etwas in mir für eine Weile noch diese verlorene Zeit – die für immer weg und jetzt als Gedanke gleichzeitig für immer in meinem Kopf ist – betrauern möchte. Nicht allzu lang, nur für ein paar Wochen, bis wieder ein neuer Akku-Balken sichtbar und spürbar ist.

Manchmal sind Dinge schon sichtbar, aber noch nicht spürbar. Manchmal sind Dinge noch spürbar, aber schon nicht mehr sichtbar.

Ich schäme mich, weil andere es wahrscheinlich viel schwerer haben. Oder sie es unter vergleichbaren Umständen besser machen. Frage mich dann wieder, warum ich das denke. Schon wieder so ein universeller Gedanke, der sich scheinbar nur für mich auf den Weg gemacht hat.

In einem Video-Call zählt eine fantastische Frau all die Dinge auf, die mit einer dysfunktionalen Exekutivfunktion in Verbindung stehen. Ich schreibe mit. Es sind mehr als ich dachte. Ich schlucke. Ich trauere. Es kommt in Wellen seit letztem Jahr. Das ist normal. Es fühlt sich nur nicht so an.

Aber was fühlt sich schon normal an? Für mich fühlt sich alles normal an. Für dich darf sich auch alles normal anfühlen. Solange wir uns halbwegs vertragen und nicht hassen und wenn wir uns hassen, dann aufrichtig, nicht so ein von oben herbeifantasierter Top-Down-Ansatz.

Wie verrückt ist diese Welt, in der wir glauben, dass einer von beiden sich wahrscheinlich vollständig irrt.

Ich explodiere. Wie jemand, dessen Schuhwerk perfekt für Trampelpfade geeignet ist und der sich auf den Weg konzentrieren will, aber immer wieder anhalten muss, um zu erklären, warum er sich von der viel befahrenen Straße fernhält. Der sich ab und zu in stiller Verzweiflung die Haare rauft und dann von den anderen Reisenden mit einem Anhalter verwechselt wird.

„Komm, ich nehme dich mit. Ich kenn den Weg!“, sagen sie. Aber sie kennen den Weg nicht. Sie kennen nur die Schnellstraße.

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