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Irgendwas mit Explosionen.

„Ich bin gespannt darauf, welche Märchen ich mir denn in 2021 erzählen werde.“ schreibe ich am letzten Tag des Jahres 2020 in mein Notizbuch.

Zweieinhalb Jahre später explodiere ich. Erstaunlich leise und effizienter als ich es mir damals vermutlich zugetraut hätte. Ich hab die Märchen seziert und etikettiert und die Etiketten wieder abgerubbelt und neu etikettiert und erkannt, dass ich sie jetzt nicht etikettieren, sondern erstmal kneten und ausrollen und wieder kneten und in eine Schüssel tun und mit einem Tuch bedecken und an einem kühlen Ort ungestört gehen lassen muss wie Hefeteig.

Die Märchen sind ziemlich universell, nichts besonderes, aber sie fühlen sich speziell an und ich gewöhne mich täglich aufs Neue an den Gedanken, dass jeden Morgen so viele Menschen mit den gleichen Märchen im Kopf aufwachen.

Wer dich versteht, der braucht keine Erklärung von dir. Wer dich nicht versteht, für den wird keine Erklärung dieser Welt genug sein.

Ich denke über alle meine hilflosen, aggressiven, passiven, passiv-aggressiven, verzweifelten, lauten, leisen, wiederholten, schriftlich oder mündlich vorgetragenen Erklärungsversuche der letzten zehn Jahre nach. Vor zehn Jahren hab ich mich zum ersten Mal gefragt, ab wann der Lärm der Welt einen Menschen krank machen kann.

Heute weiß ich: Ich hatte recht, das war eine verdammt gute Frage, ich hatte recht und ich bekomme diese Zeit nie mehr zurück. Und mit diesem Gedanken leben andere, schönere Gedanken nun für immer in einer sehr chaotischen Wohngemeinschaft zusammen.

Ich bekomme diese Zeit nicht mehr zurück. Und sie ignoriert den sorgfältig ausgearbeiteten Putzplan in meinem Kopf und sie schuldet den anderen WG-Mitgliedern Geld und sie verteilt ihre Schuhe im Flur, aber wenn man ihr zuhört und ihr vertraut, dann kocht sie für dich und sie bringt dich zum Lachen und zum Weinen und sie ist die einzige, die weiß, wie man den Feuermelder abstellen kann.

Ich bin, weil ich immer noch so unglaublich leise explodiere, und so unlogisch es klingt, energiesparend unterwegs, weil ich es muss und weil ich es will. Weil etwas in mir für eine Weile noch diese verlorene Zeit – die für immer weg und jetzt als Gedanke gleichzeitig für immer in meinem Kopf ist – betrauern möchte. Nicht allzu lang, nur für ein paar Wochen, bis wieder ein neuer Akku-Balken sichtbar und spürbar ist.

Manchmal sind Dinge schon sichtbar, aber noch nicht spürbar. Manchmal sind Dinge noch spürbar, aber schon nicht mehr sichtbar.

Ich schäme mich, weil andere es wahrscheinlich viel schwerer haben. Oder sie es unter vergleichbaren Umständen besser machen. Frage mich dann wieder, warum ich das denke. Schon wieder so ein universeller Gedanke, der sich scheinbar nur für mich auf den Weg gemacht hat.

In einem Video-Call zählt eine fantastische Frau all die Dinge auf, die mit einer dysfunktionalen Exekutivfunktion in Verbindung stehen. Ich schreibe mit. Es sind mehr als ich dachte. Ich schlucke. Ich trauere. Es kommt in Wellen seit letztem Jahr. Das ist normal. Es fühlt sich nur nicht so an.

Aber was fühlt sich schon normal an? Für mich fühlt sich alles normal an. Für dich darf sich auch alles normal anfühlen. Solange wir uns halbwegs vertragen und nicht hassen und wenn wir uns hassen, dann aufrichtig, nicht so ein von oben herbeifantasierter Top-Down-Ansatz.

Wie verrückt ist diese Welt, in der wir glauben, dass einer von beiden sich wahrscheinlich vollständig irrt.

Ich explodiere. Wie jemand, dessen Schuhwerk perfekt für Trampelpfade geeignet ist und der sich auf den Weg konzentrieren will, aber immer wieder anhalten muss, um zu erklären, warum er sich von der viel befahrenen Straße fernhält. Der sich ab und zu in stiller Verzweiflung die Haare rauft und dann von den anderen Reisenden mit einem Anhalter verwechselt wird.

„Komm, ich nehme dich mit. Ich kenn den Weg!“, sagen sie. Aber sie kennen den Weg nicht. Sie kennen nur die Schnellstraße.

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adhs

Liebes Internet,
heute habe ich auf Facebook bekannt gegeben, dass ich ADHS habe. Ich sage „bekannt gegeben“, weil es sich so anfühlte, als würde ich etwas Wichtiges verkünden. Aber außer für mich und ein halbes Dutzend fantastischer Menschen, die sich vielleicht in einer ähnlichen Situation befinden, hat das vermutlich keinen besonderen Wert.

Queen Elizabeth ist gestorben.
Die Klimakatastrophe lässt sich nun nicht mehr verhindern.
Ich habe ADHS.

ADHS kann je nach Perspektive vieles sein. Eine Verhaltensauffälligkeit. Eine Erfindung der Pharmaindustrie. Eine psychische Störung. Eine Behinderung. Eine neurologische Besonderheit. Oder eine Normvariante menschlichen Daseins. Es bedeutet dass ich mich selbst und die Welt anders wahrnehme als neurotypische Menschen. Dass ich mich anders in ihr bewege, andere Schlüsse ziehe, manchmal anders reagiere als erwartet, anderen Spuren nachgehe und mich mehr anstrengen muss, um sowas wie innere und äußere Balance zu erreichen. Weil in meinem Kopf andere Regeln herrschen.

Neurotypisch bedeutet: Deine Neurologie entspricht dem, was von den meisten Menschen als normal betrachtet wird. Neurodivergent heißt: Deine Neurologie weicht in irgendeiner Art und Weise davon ab. Menschen kämpfen seit einer Weile dafür, dass wir Neurodivergenz – wozu zum Beispiel auch Autismus, Tourette, Dyslexie und viele weitere neurologische Besonderheiten oder Behinderungen zählen – nicht mehr pathologisieren. Ich finde das gut. Aber es ist nicht leicht. Es wird nicht leicht.

36 Jahre lang fühlte ich mich wie ein Mensch, der zwar irgendwas hat – sonst hätte ich mich ja nicht so oft gefühlt wie ein Alien – aber sicherlich kein ADHS. Denn ADHS hatten in meinen Augen vor allem kleine anstrengende Schuljungen, die nicht lange auf Stühlen sitzen können, die einen unglaublichen Bewegungsdrang haben, viel reden, viel Unruhe stiften, generell viel Leben in sich tragen.

Ich dachte, das wäre einfach eine seltsame Mischung aus ein bisschen Introversion, Sensibilität, Impulsivität und Ohnmacht. Und ein noch fehlendes Teil, das sich da schon irgendwie einfügen würde, ohne dass die Dinge sich neu ordnen. ADHS ist aber nicht einfach nur das fehlende Teil. Es ist kein einzelnes fehlendes Puzzlestück, das das fast fertige Bild irgendwann komplett macht. Es ist viel eher deine eigene Bedienungsanleitung, die endlich in deine Sprache übersetzt wurde.

ADHS fühlt sich für mich manchmal so an wie eine tollwütige Katze, die wild miauend einen Flummi von einer Innenseite meines Schädels an die andere springen lässt, während ein weit hinter seinen Möglichkeiten zurück bleibender Siebenschläfer, der auch genauso gut ein verdammter Zwölfschläfer sein könnte, daneben liegt und den Spieltrieb der Katze und jede Bewegung des Flummis kommentiert – mal mehr und mal weniger klug.

Und als wäre das nicht genug, laufen im Hintergrund immer zeitgleich mehrere Lieder. Und die gefallen mir noch nicht mal alle.

Holiday (Madonna). You´re the voice (John Farnham). Let my love open the door (Pete Townshend). Apply some pressure (Maximo Park). Rasputin (Boney M.). Scream (Michael & Janet Jackson). Waiting for a star to fall (Boy meets girl). Here comes the hotstepper (Ini Kamoze). Age of Anxiety (Arcade Fire). Danger Zone (Kenny Loggins). What´s the frequency, Kenneth? (R.E.M.). The sign (Ace of Base).

Ein bisschen zu wenig Selbstregulierung, ein bisschen zu viele Selbstvorwürfe, zu viel Zeitnot und Energieverschwendung, zu viele unerledigte Dinge. Ich dachte, in den Köpfen der anderen Menschen sieht es auch so aus, dass es da auch diese Katze, diesen Flummi, diese schläfrige Stimme aus dem Off und die Hintergrundmusik gibt. Dass die anderen das alles aber besser koordinieren als ich. Weil sie geschickter, klüger, netter, höflicher, talentierter, disziplinierter sind. Man kann die Reihe unendlich fortsetzen.

Dann stieß ich kurz vor meinem 36. Geburtstag und nach einer Phase, in der ich über viele Wochen und Monate das Gefühl hatte, zu den wertlosesten Menschen auf diesem Planeten zu gehören, zufällig auf ein Video, in dem eine junge Frau über ihr Leben mit ADHS berichtete. Und was sie erzählte und wie sie es erzählte – das war so ganz anders als mein voreingestelltes Bild vom kleinen lauten, unkonzentrierten Energiebündel.

You are not a failed version of normal.

Vieles von dem, was sie erzählte, kam mir erschreckend bekannt vor. Meine uralte Frage „Wie kontrollieren andere Menschen dieses schreckliche, wunderbare, vielversprechende, erdrückende Chaos in ihrem Kopf?“ verlor danach langsam ihre Bedeutung. Ich frage nicht mehr „Was ist mit mir los? Warum fühle ich mich so müde? Was stimmt da nicht?“ Ich frage „Wie kann ich mit dem haushalten was da ist?“ Wo kann ich Abkürzungen nehmen? Wo hole ich mir Hilfe? Wo lerne ich überhaupt erstmal, mir Hilfe zu holen?

Dieser Flummi in meinem Kopf ist nicht vollständig beherrschbar. Er ist aber oft vorhersehbar. Manchmal kann ich seine Flugbahn vorausrechnen.

Ich weiß jetzt, dass ich immer zu mir kommen kann, wenn ich Sorgen, Ängste und gute Ideen habe. Dass ich mich nicht mehr schämen muss vor mir selbst. Ich hab jetzt diese Bedienungsanleitung, die mir hilft, mich ein bisschen besser zu verstehen. Und ich habe zum Glück ein paar Menschen um mich herum, mit denen ich darüber sprechen kann. Wo die Übersetzungsarbeit von der einen in die andere Sprache mich nicht so viel Energie kostet. Die sagen nicht „Keine Ahnung, was du meinst, hab ich noch nie erlebt, komplettes Neuland.“ Sondern eher: „Klar, kenn ich.“

Oder wir tauschen uns aus und vergleichen unsere Gedanken und das Innere unserer Gehirne miteinander. Dann stellen wir fest: Die Katze ist mehr oder weniger dieselbe, aber sie spielt nicht bei jedem mit einem Flummi, sondern bei einigen mit einem Wollknäuel und der Kommentator ist bei anderen kein Siebenschläfer, sondern ein Affe und der kommentiert nicht nur, der kann auch Befehle geben. Dann frage ich: „Wie macht der das mit den Befehlen?“ und wir lernen voneinander.

Aber mehr als drei Jahrzehnte lang wusste ich nichts von all dem. Als Frau habe ich gelernt, viel zu maskieren. Was nach außen gehen könnte, habe ich so oft wie möglich nach innen gerichtet. Ärger, Wut und Enttäuschung vor allem. Im Inneren kann ich es wenigstens halbwegs kontrollieren. Oder irgendwo verloren gehen lassen, bis es Jahre später als körperliches Symptom zurück kommt. In meinem Inneren sieht man es nicht. Hauptsache nirgendwo anecken mit eigenen Werten und Vorstellungen. Wie ungesund kann das auf Dauer schon sein?

Niemand kam auf die Idee, dass ich ADHS haben könnte. Aber Ratschläge gab es.

Arbeite einfach an deinem Selbstbewusstsein, mach dir für alle Bereiche deines Lebens eine To-Do-Liste und lerne, mehr so zu kommunizieren, wie wir – die neurotypische Mehrheitsgesellschaft – miteinander kommunizieren. Und hinterfrag doch nicht immer alles. Dieses ständige Overthinking. Das muss doch nicht sein. Ändere dein Mindset und damit du nicht ganz so verloren bist, kannst du dafür gern unsere Koordinaten benutzen. Vielleicht ist es auch eine Depression, du siehst ja auch immer so traurig aus, und es gibt eben leider Menschen, die etwa sensibler und nicht so widerstandsfähig sind.

Manchmal habe ich danach gefragt. Manchmal nicht. Die Ratschläge, um die ich nie gebeten habe, und die Ratschläge, die mir mit einer bestimmten Intention gegeben wurden, haben mich eine ganz schön lange Zeit ziemlich verunsichert.

Ich hab mich vor allem in den Monaten vor diesem Aha-Moment ziemlich wertlos gefühlt. Wie ein Nebendarsteller in den Stücken anderer Hauptdarsteller, der sich selbst nur noch in Bezug zu anderen erlebt. Dem man eigene Gedanken, eine eigene Wahrnehmung, einen längeren Text und eigene, sinnvolle Regieanweisungen nicht zutraut. Der sich das selbst auch nicht mehr zutraut.

„Society is our users manual. We learn how our brains and bodies work by watching those around us. And when yours works differently, it can feel like you are broken.“ (Jessica McCabe)

Ich schreibe das, um meine eigenen Gedanken zu ordnen. Um zu reflektieren. Und weil es vielleicht irgendwem da draußen hilft, sich selbst ein bisschen besser zu verstehen. Das Bild, das uns von ADHS & Co. vermittelt wird, ist unvollständig. Was die Schwächen und Stärken, was die Ursachen und vor allem was die Auswirkungen betrifft. Es gibt darüber so viel zu berichten, aber ich will es erstmal dabei belassen.

Momentan möchte ich hier einfach nur wieder ein bisschen vor mich hin bloggen. Das hat mir früher, ganz unbewusst, sehr geholfen. Dass ich mich sortieren und einfach drauflos schreiben wollte und konnte. Einfach drauflos. Das können Menschen mit ADHS manchmal ganz gut.

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Ich komme gleich wieder

Ich bewege mich seit der Entdeckung anders durch Wohnungen. Ich bin langsamer. Ich war vorher schon langsam und wusste nicht warum. Jetzt bin ich einfach nur langsam. Und tollpatschig. Manchmal merke ich, wie die Unruhe in mir hochsteigt. Dann gehe ich aus dem Raum oder halte Abstand. Sage: „Ich komme gleich wieder.“ Und vergesse dann wiederzukommen.

Plötzlich weiß ich, dass ich fast nichts zu gewinnen habe. In einer Welt voller Menschen, die so viel zu verlieren haben, ist das eine schöne Erfahrung. Jeden Tag erinnere ich mich an Dinge, schreibe sie auf, manchmal nur ein Satz, manchmal ein bisschen mehr. Wenn ich daran denke, dass irgendwo da draußen eine kluge junge Frau sitzt, die anderen mehr vertraut als ihrem eigenen Instinkt und die dann so ziemlich all ihre Energie verliert, dann weiß ich erstmal nicht wohin mit meiner Wut. Sammle mich. Suche hastig Zettel und Stift und renne wie ein Schäferhund den Gedanken hinterher, die sich zu weit von den anderen entfernen.

Die Katze besucht mich zwei- oder dreimal die Woche. Sie drückt sich an meine Beine und läuft schnelle Achten und will auf den Arm und wenn man sie nach einer Weile heruntersetzt, schlägt sie mit der Pfote zu, aber ich bin schneller, bis auf das eine Mal, als ich noch nicht wusste, dass sie mit der Pfote zuschlägt, wenn sie auf dem Arm bleiben möchte.

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Alles ist bestens, nichts ist gut.

Bild titelt „Kommt die Kiffer-Koalition?“ Gil Ofarim darf erst einchecken, wenn er seine Kette mit dem Davidstern versteckt. Aus „Filmteam“ wird „Drehende“. Aus Sommer wird Herbst. Aus dem älteren Vorsitzenden, der weder abwärts- noch aufwärtskompatibel ist, wird sicher einmal ein etwas jüngerer Mann, der genauso wenig abwärts- oder aufwärtskompatibel ist. Weil beide beim Seminar „Gewaltfreie Kommunikation und positive Psychologie für Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung“. zufällig nebeneinander saßen. Man kennt sich.

Hüfthosen feiern ein Comeback, ich fürchte mich, besser gesagt mein fetter Arsch und mein dicker Bauch. Nudeln werden auch teurer. Vielleicht sogar der Kaffee. Alles ist bestens, nichts ist gut. Ich lese den Xing-Newsletter und absurd klingende Ads für holistische Money-Bootcamps – die mir aus Versehen, weil der Algorithmus mal wieder Schluckauf hat, bei Facebook begegnen – seit ein paar Monaten nicht mehr aus Sicht einer neurotypischen, leider etwas fehlerhaften Person, sondern aus Sicht einer neurodivergenten Person. Weil ich glaube, dass ich ADHS habe. (Anmerkung der Redaktion: Sie hatte recht.)

Seitdem verstehe ich Diktatoren, verkaufsoffene Sonntage und Menschen, die sich ständig gegenseitig in CC setzen besser.

Neulich habe ich mir einen Bewertungsbogen von britischen Schulen durchgelesen. Da gibt es Menschen, die glauben, dass man das Potenzial der Kinder danach bewerten kann, ob sie regelmäßig Augenkontakt herstellen. Ich stelle mir Boris Johnson seitdem als großes, total normales Kind voller Potenziale vor. Perfekt für den Job. Weil er zwar eine komische Frisur, aber sicher oft genug Blickkontakt hergestellt hab.

Ganz schön viel ergibt plötzlich Sinn. Sogar dass ich mir bei Formularen immer denke „Ich kann diese Zeile nicht ausfüllen, ich brauche sofort eine Mutter-Kind-Kur. Außerdem sind die an den falschen Stellen zu genau und an anderen Stellen zu ungenau. Wer hat sich das ausgedacht?!!“

Ich hätte das gern schon früher vermutet. Dann hätte ich mir viel ersparen können. Meine Selbstständigkeit wäre anders verlaufen. Meine Schlafstörungen auch. So vieles.

Gerade ist eine Taube gegen meine Fensterscheibe geflogen, ich wünsche euch hastig ein gutes Wochenende.

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Dopamin und Minigolf

Seit drei Tagen beschäftigt mich ein Gedanke, der erstens irgendwie fast immer da war, der mich zweitens total erleichtert und der mich aber auch drittens ziemlich verängstigt. Ich glaube nämlich, ich bin nicht so normal wie ich immer dachte.

Ich glaube mittlerweile, ich steh gar nicht mit einem Bein in der Welt der Normalen und mit dem anderen Bein in der Welt der Nicht-Normalen, sondern ich stehe eigentlich mit beiden Beinen relativ klar und deutlich in der Welt der Nicht-Normalen, aber weil ich ab und zu so meine rhetorischen Momente und sehr viel Glück, ein winzig kleines bisschen Talent und immer wieder auch sehr viel Sichtkontakt zu den Normalen habe, ist das bisher niemandem so richtig aufgefallen und mir am allerwenigsten.

Und fragt mich jetzt besser nicht, warum ich denn dachte, dass ich normal bin und ob ich dieses Normalsein denn überhaupt definieren kann.

Ich weiß nur: Die Normalen, sie erschöpfen mich gelegentlich. Oder meine Reaktion auf ihr Normalsein erschöpft mich. Zugegeben, ich erschöpfe sie auch an verschiedenen Stellen. Ich dachte, dass ich wüsste, warum das so ist, aber ich habe nicht scharf genug nachgedacht.

Das Besondere ist, dass mir der letzte Groschen dazu nur gefallen ist wegen dem Facebook-Algorithmus. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Superpeinlich und so 2016. 2016, als uns allen noch nicht so bewusst war, wie sehr dieser Algorithmus die Menschen spaltet und ausweidet, bis der ganze Datensatzsaft aus ihnen herausläuft. 2016, als wir noch insgeheim hofften, es gäbe wirklich so etwas wie den größten gemeinsamen Nenner. Vielleicht war das auch 2006, ich habe keine Ahnung, ich bin schließlich zerstreut.

Vor drei Tagen hätte ich das hier geschrieben, es gelesen und mir gedacht: Ganz schön wirr, das muss man nicht unbedingt veröffentlichen. Vor drei Tagen dachte ich aber auch noch, dass ich im Zweifel zu den neurotypischen Menschen gehöre, die sich einfach mal mehr anstrengen oder weniger nachdenken oder an ihrem Mindset arbeiten müssen, ohne Rücksicht auf Verluste, Umstände und Neurotransmitter.

Ich dachte, dass ich zur unteren neurotypischen Mittelschicht zähle. Oder halt zur oberen neurotypischen Unterschicht. Woran ich nie gedacht habe: Dass meine Wahrnehmung, mein Verhalten, meine Stärken und Schwächen nicht so normal und durchschnittlich und mehr oder weniger unauffällig sind, wie ich das irgendwie gerne hätte.

Seit drei Tagen freunde ich mich mit dem Gedanken an, dass meine Drehregler anders funktionieren als gedacht. Das ist kein heldenhafter Moment für jemanden, der immer gedacht hat, dass er sich eigentlich ganz gut kennt. Im Grunde stehe ich seit Jahren am Rande eines Fußballfeldes, schaue mir das Spiel (also die sozialen Gepflogenheiten) an, finde die Gruppendynamik und die Regeln etwas unverständlich und werde gelegentlich aus Versehen eingewechselt.

Im Grunde bin ich aber Minigolfer. Häufig schlage ich daneben, keine Ahnung, wer gewinnt, keine Ahnung, ob das wichtig ist. Es gibt keinen Kommentator und wenn doch, dann hört man ihn nicht. Aber es gibt eine Langnese-Eis-Tafel und es gibt immer mehrere Versuche und manchmal dauert ein Spiel vier Stunden. Wenn es regnet, stellt man sich unter. Dann gibt es Pommes, Cola und gute Gespräche. Beim Fußball kommt das kaum vor. Es wird auch weniger gebrüllt, außer bei der einen verdammten Bahn.

Es spricht vieles für Minigolf und in meinem Kopf erscheint es vollkommen logisch, möglichst viele Spiele im Fernsehen zu übertragen.

Neurodiversität und Minigolf und der Facebook-Algorithmus also. Zwischendurch eine Pandemie, ein trauriges Haustier, eine Trennung, zu viele fragwürdige Demonstrationen auf der Straße und die Frage: Wo ist mein Zuhause? Und kann das nicht die Welt sein? Also so ganz generell. Warum verteidigen und erdrücken und ersticken wir so oft das, von dem wir vor dem großen Finale doch sowieso nicht wissen können, welchen Namen wir dem ganzen geben wollen oder müssen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich gerne mal wieder Minigolf spielen würde. Und dass ich schon immer gerne Minigolf gespielt habe.

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Es geht gleich wieder

Heute lebe ich seit ungefähr 400 Tagen mit einem seltsamen Gefühl im Nacken. Nicht ununterbrochen, aber immer mal wieder. Es ist eine Mischung aus Sorge und Mitgefühl, etwas, das zur Hälfte nach innen und nach außen geht. Alle paar Tage bis Wochen heule ich einmal kurz Rotz und Wasser und bis auf wenige Ausnahmen bin ich dabei immer allein. Einige Male, in denen ich nicht allein war, hatte ich trotzdem das Gefühl, allein zu sein.

Seit ein paar Monaten kann ich mir vorstellen, was passieren muss, damit aus einem Menschen, der immer weinen und offen über die eigenen Sorgen sprechen konnte, jemand wird, der sich so eine richtig hässliche drittklassige Rüstung zulegt. Also keine gute Rüstung, die wirklich was taugt und gut sitzt und aus gutem ganz leichtem Material ist, sondern so eine aus dem … sagen wir mal… Action Markt. Aber immerhin – eine Rüstung.

Ich heule nicht, weil ich in einer akuten, verzweifelten Lage bin oder weil jemand, der mir etwas bedeutet, an dem Virus gestorben ist, sondern weil ich nicht diszipliniert genug bin beim Abschütteln von negativen Gefühlen. Und weil ich nie lange an dem Gefühl festhalten möchte, sondern ihm eigentlich nur die Tür öffnen, es sehen, annehmen, kurz umarmen und dann wieder verabschieden möchte. Einmal kurz heulen und dann geht es einfach weiter.

Manchmal begegnen wir im Leben Menschen, die es nur gut meinen, wenn sie uns vorschlagen, dass wir das Klopfen auch einfach ignorieren können. Man muss das negative Gefühl ja nicht reinlassen.

Das Problem ist, diese Leute sitzen oft mit dem Rücken zum Fenster und sie sehen nicht, wie das Gefühl noch eine Weile ums Haus schleicht und durch die Scheibe schaut. Und selbst wenn wir dann die Gardinen zuziehen, wissen wir: Das Gefühl war da, es hat geklopft, es kann noch nicht weit sein.

Und was der andere Mensch, der es vielleicht nur gut meint oder der sich vielleicht einfach nur selber schützen oder nicht gestört werden möchte, nicht weiß: Dieses negative Gefühl flüstert uns – also mir – bei dieser kurzen Begegnung immer etwas ins Ohr. Und das sind nie böse Worte, das ist keine Beleidigung oder ein Fluch.

Es sagt: Pass gut auf dich auf.
Genau genommen sagt es immer nur zwei Sätze.
Zur Begrüßung: Komme ich gerade ungelegen?
Zum Abschied: Pass gut auf dich auf.

Manchmal glauben die Menschen, die mit dem Rücken zum Fenster sitzen, und gerade nur nach drinnen und nicht nach draußen schauen können, dass das Gefühl zum Essen bleiben möchte. Sie glauben, es bleibt länger, es hat Durst und Hunger und erwartet jetzt irgendwas. Oder packt direkt die Isomatte aus. Aber das Gefühl will nie lange bleiben und es erwartet eigentlich gar nichts Besonderes von uns, nur dass wir es ein einziges Mal kurz reinlassen, nur dass wir das Klopfen nicht ignorieren.

„Es geht gleich wieder.“, sagen wir, wenn der andere fragt, was er tun soll oder eine Lösung vorschlägt für ein flüchtiges Problem. Für etwas, was gar kein richtiger Besuch ist, nur ein kurzes Signal, empfangen von Antennen, die wir dann irgendwann – weil wir uns schuldig fühlen – abschrauben.

Und dann werden wir unglücklich, wir erleben den Anfang und den Mittelteil und das Ende vom Ende, und wir vergessen, dass es keine Rolle spielt, ob irgendeiner von den wunderbaren Menschen und den verdammten Wichsern da draußen unsere Furchtlosigkeit als solche überhaupt erkennt.

Niemand hat uns tatsächlich gebeten, die Antenne abzuschrauben. Das braucht es gar nicht. Es reicht manchmal aus, in einer Gesellschaft zu leben, die einen Teil ihrer Zeit damit verbringt, sich über ungebetene Gäste zu beschweren. Über diese negativen Gefühle, die gleich wieder gehen, wenn man sie akzeptiert, von denen man aber nie weiß, wie lange sie eigentlich im ungünstigsten Fall ums Haus schleichen.

Vor drei Wochen habe ich wieder eine leere Word-Datei geöffnet und einige meiner Lieblingsorgane (jeder braucht Lieblingsorgane. Welches sind eure? Schreibt´s mir in die Kommentare) haben sich angefühlt als wären sie irgendwie über Nacht leichter geworden. Es hat geklopft, ich hab die Tür geöffnet und noch auf der Schwelle einen längeren Blick auf die Sorgen und den Zorn und die Unzulänglichkeit geworfen. Und mir erlaubt zu fragen: Wo kommt ihr überhaupt her?

Und seid ihr hier überhaupt richtig?

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Die Leiter der Abstraktion

Neulich haben wir wieder diskutiert. Wir streiten nicht, wir diskutieren nur. Es donnert und blitzt nie, es regnet nur immer, dabei kann so ein Gewitter wirklich schön sein. Diskutieren heißt, ich verknüpfe tausend scheinbar unabhängige Dinge miteinander und lasse Bilder in den Köpfen entstehen, die dabei helfen, zu verstehen, wovon ich rede. Du sagst, niemand kann das so gut wie ich. Ich nehme das Kompliment an und sage einfach: Ja, wahrscheinlich kann das wirklich niemand so gut wie ich.

Ich bin sehr abstrakt, aber ich kann auch sehr konkret werden. Das Abstrakte hilft dabei, dass niemandem auf die Füße getreten wird und alle außer mir die Zimmertemperatur genießen können. Wenn dann jeder erwachsene Mensch oder diejenigen, die von sich glauben, erwachsen zu sein, sich in Sicherheit wiegt, und ich mich immer noch unverstanden fühle, kommt der konkrete Teil.

Ich steige die Leiter der Abstraktion runter, so schnell kannst du gar nicht gucken, ich schmeiß die Leiter in den Dreck, ich lasse sie achtlos liegen, auch den bürokratischen Teil, der uns oft durch das Leben rettet oder das was davon übrig ist. Ich steige jedenfalls runter und stehe dann mit beiden Füßen in der Scheiße und dann spreche ich darüber.

Ich kann ganz lange auf der obersten Sprosse herumturnen, feige und vage und wohlklingend, und ein bisschen auch wohlbehütet. Ich kann das wochen-, monate-, jahrelang durchziehen, bis an den Rand einer Angststörung, ab und zu lasse ich es kleine Tannenzapfen auf die Scheitel der anderen regnen, aber das tut nicht weh, das bisschen Ironie und Sarkasmus, viele bemerken das kaum oder reagieren nicht, weil sie die Kunst der stoischen Ruhe beherrschen.

Ich bin jedenfalls ganz sachte und leise und nahezu unsichtbar, ich deute an, ich weiche aus, ich bin ein bisschen tollpatschig, ein bisschen kompliziert und ich drücke mich auch ganz brav ganz eng an die Wand, damit alle anderen ihre schöne kraftvolle Spannweite nutzen können. Ich drücke mich an die Wand, mit meiner eigenen Spannweite. Und dann reicht es mir. Dann schließe ich die vielen offenen Seiten in meinem Kopf, ich drücke auf „Zwischenspeichern“, ich verliere die Fassung.

Neulich haben wir diskutiert, ich weiß nicht mehr worum es ging, ich weiß aber, dass ich ein Bild von zwei Menschen gemalt habe, um dir zu sagen, dass ich dich irgendwie verstehe.

Einer lässt zu, dass die negativen Emotionen, die Wut, die Scham, die Fassungslosigkeit etwas mit ihm machen, er lässt zu, dass sie ihn verändern, kurzfristig, damit er mittelfristig etwas damit machen kann. Der andere betrachtet die negativen Emotionen flüchtig, er gewährt ihnen keinen Zugang, aber er erinnert sich und manchmal passiert es, dass die Person eine Weile später an einem ganz anderen Ort mit ganz anderen Menschen allein durch die Erinnerung es schafft, Dinge aufzulösen, Gemüter zu beruhigen, etwas besser einzuordnen.

Beides ist wertvoll, beides kann die Welt zu einem schlechteren, aber viel öfter auch zu einem besseren Ort machen. Wenn wir versuchen, das Verhalten des anderen zu verstehen. Nachdem wir es (wie die erste Person) ausgiebig bewertet haben oder (wie die zweite Person) ausgiebig und unter enormer Kraftanstrengung versucht haben, jetzt bloß nichts zu bewerten.

Es gibt Menschen, denen ist das eine so fremd wie das andere. Die gucken sich das nicht an, die lassen sich nicht verändern, die finden das affig und nennen es Standpunkt. Von denen rede ich nicht. Ich rede von den Nörglern und den Kaltherzigen, die weder nörgeln, noch kaltherzig sind, aber so wirken müssen, manchmal, auf andere.

Menschen sind spannende Tiere. Und ich kann nicht mehr so lange auf der obersten Sprosse sitzen. Ich habe nämlich Höhenangst. Und da oben passiert ja nicht viel. Man sieht alles, aber keiner hört zu, verständlicherweise. Keiner hört dich reden, keiner hört dich denken. Gott sei Dank und schade eigentlich.

Würde man mich denken hören, gäbe es viel mehr geschwollene Lippen und auch viel mehr Girlanden auf der Welt und auch Panzer, die wir irgendwie, falls das möglich ist, als Gulaschkanonen zweckentfremden.

Ich stehe gern da unten in der Scheiße und schneide mich vielleicht hin und wieder an einer Glasscherbe. Es ist schön da, wenn man die Scheiße trocknen lässt und es langsam aufhört zu bluten und man sich überlegen kann, wie man die Wunden versorgen möchte.

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Spezialisten, Exorzisten, Generalisten und Positionierung

Das hier wird jetzt sehr abstrakt. Ich entschuldige mich von Herzen bei all jenen Menschen, die damit nicht umgehen können.

Wenn du in den ersten Monaten deiner Selbständigkeit kurz davor bist, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und unter einem Berg von Zitronen, die dir das Leben angeblich schenkt, begraben zu werden, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Gut, es gibt unzählige Möglichkeiten, aber ich möchte nicht über die unzähligen Möglichkeiten schreiben, sondern nur über diese zwei. 

Möglichkeit Nummer Eins: Du gehst nur einen Fuß breit in dich, dahin wo es noch nicht so dunkel ist, an das eine Ende des langen schmalen Flurs mit dem großen Fenster, in der Nähe des Haupteingangs. Nicht an das andere Ende, mit den vielen Türen und dem flackernden Licht, wo du einem schreienden Kind auf einem Bobbycar ausweichen musst, das gerade vor einem Clown flüchtet, der freitags im Home Office als Virtueller Exorzist arbeitet. 

Am Anfang des Flurs ist es hell und da steht ein bequemes Sofa auf der rechten Seite und es gibt immer genug zu Essen, zu den immer gleichen Zeiten und du lässt dich nicht verrückt machen und du gönnst dir zur richtigen Zeit die richtige Pause und wenn das Telefon klingelt, dann gehst du spätestens nach dem dritten Klingeln ran.

Und du schaust nicht nach rechts in die Dämmerung und du  interessierst dich auch nicht für all die Räume, für die Möbel in den Räumen, für die rauen Wände, die Spinnweben, die alten Bücher, die verstaubten Bilder und die herunter gebrannten Kerzen und die Schachteln und den Inhalt der Schachteln. Weil du die Räume schon gesehen hat, als du um das Haus herumgelaufen bist und von außen durch jedes Fenster geschaut hast.

Möglichkeit Nummer Zwei: Du versuchst es für eine kurze Zeit mit Möglichkeit Nummer Eins. Schnell stellst du fest, dass deine Peripherie für den Zweck nicht vorgesehen ist und es dich immer wieder tiefer in den Flur hinein zieht. Du betrittst also den Flur. Müde. Und ohne Proviant. Weil du denkst, dass du in zwei Stunden sowieso wieder zurück bist. Im ersten Raum stößt du auf Dinge, die dich irritieren. Die Schachteln sind beschriftet, aber der Inhalt lässt darauf schließen, dass jemand die Etiketten vertauscht hat.

Du raufst dir die Haare und fragst nach dem Warum. In der Ecke des Raumes steht ein Skelett und der Formlosigkeit des Schädels nach zu urteilen gehört es zu einem weißen, heterosexuellen Mann, der zu Lebzeiten ständig behauptet hat „Aber der Erfolg gibt mir recht!“, dessen Definition von „Erfolg“ aber irgendwie nicht so ausgereift ist.

Du öffnest das Fenster und die frische Luft erinnert dich daran, dass dir speiübel ist, und das Skelett klappert mit den Zähnen und dann will es dir eine Hochglanzbroschüre reichen mit einem ungeschickt formulierten Leitbild und du raufst dir die Haare und fragst nach dem Warum und verlässt den Raum. 

Und dann findest du die Wandtattoos. Vertrauen. Innovation. Latte. Das Macchiato hat jemand heruntergebissen. Das Skelett vielleicht. Oder das Kleinkind.

Und du findest die Schublade mit den Dingern, die man sich an das Handy klemmt, um bessere Selfies machen zu können. Und dann klingelt das Telefon, irgendwo da vorne neben dem Sofa, aber du gehst nicht ran, weil du die unsichtbare Grenze überschritten und dir mittlerweile einen anderen Tagesrhythmus zugelegt hast. Wie früher. Mit 13. In den Sommerferien.

Du gehst erst wieder ran, wenn du den allerletzten Raum betreten hast und das kann dauern, denn du hast noch eine Menge vor dir und jetzt will der Clown dich in ein Gespräch verwickeln. Über Body Positivity. Und du denkst „Für den Anfang tut es Neutralität ja auch erstmal.“ Und du raufst dir die Haare und du fragst nach dem Warum. 

Im nächsten Raum begegnen dir zwei Unternehmensberater, die leidenschaftlich darüber debattieren, zu welcher Uhrzeit Menschen am produktivsten sind und wie viel Geld man einsparen kann, wenn man aus mehreren Drei-Mann-Büros ein buntes Großraumbüro macht. Beide haben Barcodes im Nacken tättowiert und beide unterbrechen ihr Gespräch kurz, um sich dir vorzustellen. Du kannst dir die Namen nicht merken, die Namen spielen auch gar keine Rolle, du erkundigst dich aber mit ehrlichem Interesse nach den weiteren Zukunftsplänen der beiden.

Der eine erzählt dir von dem Bed & Breakfast in den Bergen, das er demnächst, wenn er denn dann soweit ist, renovieren möchte, weil es am Ende immer um Familie und frische Luft und regionale Zutaten geht. Da muss man aber auch erstmal drauf kommen. Das sagt einem ja auch keiner. Die eigenen Gefühle vielleicht, aber wer kann sich das heutzutage noch erlauben? Und der andere erzählt dir von den fair gehandelten Flipflops und dass er schon die Domain dafür reserviert hat. 

Am Ende des Flurs werden dir zwei wichtige Dinge bewusst.

1. Nein sagen

Du wirst dich langsam auflösen und vermutlich in einem der Zimmer in irgendeinem Wandschrank verschwinden, wenn du nur so tust als würdest du dich wichtig nehmen, aber in den entscheidenden kleinen Momenten die falschen Entscheidungen triffst. Wenn du wie eine Aufziehpuppe immer wieder sagst: Ja. Kein Problem. Geht schon irgendwie. Na klar. Mach ich. Krieg ich hin. Ist keine große Sache. 

Jedes unhinterfragte Ja ist eine Ohrfeige gegen dich selbst. Jedes Ja bedeutet, dass du Nein zu deinem Potenzial sagst und zu all den Menschen, die dir vertrauen und die dir eine Chance geben. Dein Ja hilft den Leuten nicht. Kurzfristig vielleicht, aber langfristig definitiv nicht. Du musst dich selber wichtig nehmen, um auch die anderen wichtig nehmen zu können.

Andersherum funktioniert es nicht. Es endet in einer körperlichen und seelischen Erschöpfung, die sich über Wochen und Monate ganz langsam aufbaut. 

2. Generalisten und Spezialisten

Vor einem Jahr habe ich meinen Job gekündigt, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dass andere darüber entscheiden dürfen, wann ich welche Rolle einnehmen soll. Lückenfüller, Vertretung,  Datensammler, Kreativer, Praktikant, Therapeut, fleißiges Bienchen, persönliche Assistentin. Selbst wenn das ihr gutes Recht ist.

Ich habe gekündigt, weil ich Verantwortung übernehmen wollte für mein Leben. Und weil außer mir kein anderer Mensch für mein Wohlbefinden verantwortlich ist oder wissen kann, wie beschissen es mir geht, solange ich nicht in der Lage bin, meine Bedürfnisse nachvollziehbar zu machen.

Ich habe gekündigt, weil die Panikattacken zurück gekommen sind. Ich habe gekündigt, weil ich irgendwann nur noch aus Selbstzweifeln bestand. Und weil ich nicht in der Lage bin, Brände zu löschen für Menschen, die mein Talent, diese Brände zu erkennen bevor sie entstehen, nicht sehen. Nicht sehen können. Weil sie sich um anderen Scheiß kümmern müssen. Um Scheiß, von dem ich nichts weiß. So wie die von meinem Scheiß auch nichts wissen. Und ein Text ändert daran auch nicht viel, denn der Scheiß bleibt graue Theorie, praktisch bleibt man relativ unbeteiligt.

Die Panikattacken sind verschwunden. Die Selbstzweifel sind geblieben. Auch das ungesunde Verhalten, vor allem die oben beschriebene Unfähigkeit, im richtigen Moment Nein sagen zu können.

Ich dachte, meine größte Herausforderung als selbständige Grafikdesignerin, wäre es, Aufträge zu bekommen. Die Wahrheit ist: Mein Gehirn ist meine größte Herausforderung. Dieses Gehirn gaukelt mir ständig vor, dass ich mir ein Spezialgebiet suchen muss. Das Internet trägt seinen Teil dazu bei. An jeder Ecke begegnen dir kreative Menschen, die offenbar seit Jahren ganz erfolgreich immer diese eine Sache machen. Der Illustrator mit dem unverkennbar eigenen Stil, den du unter tausenden widererkennen würdest. Die Grafikerin, die Webseiten baut für Kleinunternehmerinnen in Heilberufen. Der Typ, der scheinbar all sein Geld mit Ebooks verdient, in denen er den Leuten erklärt, mit welchen Hashtags sie auf Instagram Erfolg haben. 

Spezieller geht es ja irgendwie nicht mehr. Und dann komme ich und mache mich selbständig. Als Pixelraupe. Geht ruhig auf die Homepage und schaut euch diese – Entschuldigung – unfertige Scheiße an. Ich bin momentan soweit zu sagen: Es ist ok. Denn das ist ja der Punkt. Ich bin unfertig, auch wenn ich mich manchmal ziemlich fertig fühle, und ihr seid es auch, glaubt mir, ihr seid es, wir werden alle gemeinsam unser Leben lang unfertig sein, und das ist beängstigend und wunderbar und alles in allem ziemlich ok. Aber zurück zum Thema.

Ich mache mich also selbständig. Eine Scannerpersönlichkeit, introvertiert, intuitiv, eine Nachteule, eine Scheiß Mischung aus zu viel und zu wenig Temperament, gelernte Grafikerin, aber mein Herz besteht nicht nur aus Bildern und Farben, ein nicht unerheblicher Teil besteht aus Worten, weil Worte – richtig eingesetzt – der schönste Umweg sind hin zu schöneren Bildern und intensiveren Farben. Es ist ein Fluch und ein Segen zugleich.

Die Wahrheit ist: In den ersten Monaten meiner Selbständigkeit kamen mir meine Tage vor wie dieses oben beschriebene kopflose Herumirren von Raum zu Raum. Ich stehe immer noch in diesem Haus in einem dieser Räume und werfe hilflose Blicke in einzelne Schubladen eines Apothekerschranks. Und das was mir bisher am allermeisten die Laune verdorben hat – neben meiner angeborenen Unfähigkeit, das Wort „nein“ zu denken, geschweige denn auszusprechen – war das Thema Positionierung. 

Positionierung im herkömmlichen Sinn funktioniert nicht, wenn du Generalist bist und dich gerade im kreativen Bereich im ländlichen Raum selbständig gemacht hast. Positionierung lähmt dich, wenn du die Sache falsch angehst.  Wenn du denkst, dein Problem wäre, dass du zu perfektionistisch, zu schlecht, zu blöd, zu unsicher oder sonst etwas bist, dann kann es sein, dass du dir einfach nicht die Zeit genommen hast, dich zu fragen, ob du zu den Spezialisten oder zu den Generalisten zählst und was das jetzt konkret bedeutet.

Ich liebe meinen Beruf. Aber das weiß ich erst seit ein paar Wochen wirklich. Ich mache ihn seit fast fünfzehn Jahren, aber erst eine Zwangspause im August mit 0 Euro Umsatz hat mir gezeigt, dass ich ihn liebe und dass das nur gelingt, wenn ich unabhängig von der Meinung anderer definiere, was er bedeutet. Und damit kämpfe ich gerade und es fühlt sich so an als hätten meine Tage nicht genug Stunden.

Ich liebe meinen Job unter der Voraussetzung, dass ich mich nicht spezialisieren und in irgendeine Nische zwängen muss. Und auch wenn viele Menschen der Meinung sind, dass der Grafik-Designer derjenige ist, der in ein Haus kommt und da frische Blumen auf den Wohnzimmertisch stellt und die Gardinen wechselt, der also Dinge schön macht. Diese Person werde ich, ob ihr es glaubt oder nicht, niemals ausschließlich sein, auch wenn mir diese Arbeit immer wieder Spaß macht. Ich kann das jeden Tag mehrere Stunden lang machen. Aber eben nicht nur. Ich bin von Natur aus eher der Mensch, der das Haus betritt, sich umschaut und dann manchmal zu dem Ergebnis kommt, dass es sinnvoller ist, erstmal einen Container vor dem Haus aufzustellen und einen Haufen Zeug aus dem Fenster zu schmeißen. Und das hat viel mit Zuhören zu tun. Mit Beobachten. Mit dem Erkennen von Zusammenhängen. Mit dem Lesen von Fußnoten. Mit der Bereitschaft Fragen zu stellen, statt Argumente vorzubringen. Das kommt meistens nicht wie aus der Pistole geschossen. Das ist eher ein Bogen, den man erstmal spannen muss. 

Ich liebe es, Dinge zu sortieren, Dinge zu sammeln, zu suchen, Daten zu analysieren. Wenn das dabei hilft, etwas oder jemanden besser zu verstehen. Wenn es der Sache dient. Ich hasse es, dieselben Dinge aus der Not heraus zu tun, weil das Ur-Prinzip „Wenn alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich.“ mal wieder alle Schiffe versenkt. Ich mag Menschen, die wissen, was für eine große Rolle der Kontext spielt. Dass Menschen vollkommen andere Entscheidungen treffen, sich anders verhalten, wenn sie frei wählen können. All das hat mit Design scheinbar nichts zu tun. Aber die Grafik-Designer, deren Namen man kennt, diejenigen, die das seit dreißig oder vierzig Jahren machen, das sind diejenigen, die sich in erster Linie für Menschen interessieren, nicht für die Schönmacherei. Und nicht selten sind das auch Leute, die mit Worten umgehen können. Die die Inhalte ernst nehmen. Weil Design ohne Inhalt Dekoration ist.

Produktentwickler John Cutler hat in einem Text auf Medium mal geschrieben:

„Engineers and designers are trained problem solvers (and problem definers/explorers, and systems thinkers, and cost/benefit analyzers, etc). They can sniff out incoherence a mile away, even if it isn’t their individual area of focus and expertise. So, while a designer may not be a “business expert”, they’re likely able to sense a business strategy that doesn’t add up. They can also tell when someone is flat out guessing.

When they (engineers and designers) repeatedly can’t see the impact of their work, or impact is wrapped in success theater, or the product manager’s actions are incoherent, or explanations are weak and opaque…they are likely to start losing faith and trust. Even small and innocent things can be a trigger.“ 


Der Mann hat recht. Aber so recht glauben will das niemand, weil es nicht in das Bild vieler Menschen passt. Man muss sich trauen, das der Welt auch zu beweisen, auf die ein oder andere Art. Und man muss wissen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, die Methoden anderer zu ignorieren und wieder nach den eigenen Prinzipien zu handeln. 

Was das für meine Arbeit und mein Leben bedeutet? Ich werde anderen möglicherweise in naher und ferner Zukunft eher erklären können warum Dinge geschehen oder nicht geschehen sind. Ich werde mit dem vagen Gefühl leben, mich manchmal unbeliebt zu machen, und hoffentlich und vielleicht manchmal mit der Hilfe von Menschen, die mich wirklich gut kennen, feststellen, dass ich damit leben kann und dass sich viele Sorgen nicht bewahrheiten.

Ich werde Ausflüge in andere Welten nicht mehr als Ausflüge betrachten, sondern als etwas, das fest zu mir gehört. Vor allem, wenn es mir viel Energie zurück gibt. 

Ich werde meine Aufmerksamkeit anders einteilen und das bedeutet, dass ich endlich akzeptieren muss, dass mein Motor, mein größter Antrieb sich für andere manchmal anfühlt wie eine Bremse. Und das möchte ich nicht. Ich will nicht, dass der Generalist und der Idealist in mir meinen momentanen Berufsalltag behindern. Deshalb muss ich ihnen Raum geben und ich muss mich um sie kümmern und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Aber ich werde Ihnen nicht mehr erlauben, ständig auf meinem Schoß zu hocken, wenn ich am Schreibtisch sitze. Es sei denn, ich treffe die bewusste Entscheidung.

Es bedeutet, dass ich die Zusammensetzung der Zutaten, mit denen ich täglich arbeite, anpassen und nicht jedes mal automatisch meine geheime Lieblingszutat aus dem Schrank holen muss. Die Zutat die viele nicht kennen, von denen einige etwas ahnen, und mit der nur ein kleiner Kreis von Menschen wirklich etwas anzufangen weiß – und es ist übrigens nicht Dill, denn Dill versteht wirklich keine Sau. Diese Zutat, die jeder Mensch besitzt, muss man beschützen und einen bewussten Umgang mit ihr pflegen. So pathetisch das klingt und egal wie hart das ist für jemanden wie mich.

Es bedeutet auch, dass ich mich in den nächsten Wochen dazu zwingen muss, wieder mehr zu schreiben, an verschiedenen Orten, um wieder ein Gefühl für die Dinge zu bekommen, die mich antreiben. Um zu überzeugen. Um zu informieren. Um Impulse zu geben. Um Menschen manchmal auch das Alleinsein erträglicher zu machen. Wenn ich schreibe, dann reagiert mein Körper wie der Körper eines kerngesunden Menschen. Wenn ich schreibe, dann kann ich überzeugend sein. Wenn ich schreibe, dann interessieren mich trommelnde Finger, ungeduldige Blicke und blinde Flecken nicht. 

Darauf freue ich mich. Ich sage danke für eure Aufmerksamkeit. Steht zu eurem Gehirn und seid gut zu euch selbst. 

Weiterhin alles Gute
Eure Franziska

 

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Kopf

Crisis & opportunity

Die zwei Fliegen tanzen noch eine Weile um mich herum, lassen sich auf Unterarm und Hand und auf der Nasenspitze nieder, als würden sie mich testen wollen. Als würden sie wissen wollen, ob ich das jetzt wirklich ernst meine. Sie starren mich an, sie starren mich an, während sie krabbeln, und ich glaube, sie tauschen auch heimlich Blicke aus. Das können Fliegen sehr gut, sie haben besondere Augen. 

Als die Atemzüge tiefer und die Gedanken weniger werden, ziehen sie sich zurück, als hätten sie sich abgesprochen, als wüssten die Biester jetzt alle beide: Das wird heute nichts mehr, die meint das ernst mit ihrer Meditation auf der Eckbank in der Küche. 

Ich atme und atme und atme und finde, dass alles irgendwie zu viel ist. Innen und außen. Zu viel Druck. Zu viele Erwartungen. Zu viel Tamtam. Zu viel Perfektionismus. Zu viele Menschen, die glauben zu wissen, was ein anderer gerade braucht, denkt, will oder ist. Und das mag sich etwas komisch anhören, immerhin muss ich kein Kind in den Kindergarten bringen, meinem Mann kein Brot schmieren, ich bin keine Eiskunstläuferin oder jemand mit Personalverantwortung. 

Nachmittags schreibe ich all die Dinge auf, die in den letzten drei Monaten irgendetwas mit mir gemacht haben. Gespräche, die ich geführt habe. Fragen, auf die ich noch keine Antwort gegeben habe. Menschen, die sich vor meinen Augen in ein anderes Licht gerückt haben. Erkenntnisse, die ich hatte. Menschen, die mir unwichtige Organe entnommen oder mir Blutergebnisse mitgeteilt haben, auf die ich 17 Monate lang gewartet habe. Fragezeichen, die ich seit mindestens sechs, eigentlich sogar 34 Jahren mit mir herum geschleppt habe in einem Rucksack, der mir viel zu groß und schwer ist, aber an den ich mich irgendwann gewöhnt habe, so wie man sich an alles gewöhnt, wenn man nicht aufmerksam ist. 

Worte, die ich zu Bett schicken muss, damit Leute, die zu müde sind, bei jeder Begegnung neu Maß zu nehmen, sich nicht schlecht fühlen. Die eigene verdammte Feigheit. Die verdammte Feigheit der anderen.

Morsezeichen meines Körpers. Energien, die ich plötzlich wahrnehme und das kannst du ja keinem erzählen, der nur an die Dinge glaubt, die man hören und sehen und anfassen kann, der nur an Sirenen und Blumenkohl und Brüste glaubt. Das kann man keinem erzählen, wie das ist und wie das damals war, irgendwann im Sommer 2015, mit den Händen im Spülwasser und diesem plötzlichen Sauerstoffmangel, der sich im Raum ausbreitet. Und den ich danach nie wieder so intensiv gespürt habe. Dachte ich jedenfalls.

Es sind 34 Punkte geworden. Abends kommt noch ein 35. Punkt hinzu, wie eine Fußnote, nicht laut und polternd, sondern leise, kein Befehl, keine Überschrift, eher ein Vorschlag. Eine Fußnote eben. Wenn du willst, kannst du dir über diesen Punkt auch noch Sorgen machen. Wenn du möchtest, werden alle vorherigen Punkte plötzlich klein, lösen sich auf, verschwimmen vor deinen Augen. Du entscheidest. 

Irgendwo da draußen, in der Welt und im Netz und Gott sei Dank manchmal auch direkt vor meiner Nase, gibt es Menschen, denen man all das nicht umständlich erklären muss. Die sich wenigstens ein bisschen selber kennen, die sich hinterfragen, die sich wichtig nehmen und deshalb nicht immerzu allen beweisen müssen, wie wichtig sie sind. 

Ich bin müde. Wie jemand, der seit 15 Jahren darauf wartet, einen angefangenen Gedanken zu Ende zu denken. Wie jemand, dem man immer nur zwei Wochen Urlaub gewährt hat. Nie verdammte drei Wochen. Wie jemand, der gerade mühsam lernt, wie das wirklich funktioniert, wenn man sich selbst wichtig nimmt.

Ich bin müde, weil ich seit vier Wochen weiß, dass Müdigkeit mir in den Genen liegt. Ich bin müde, weil mir das niemand gesagt hat und ich es selbst herausfinden musste. Ich bin müde wegen all den Menschen, die sich in den anderen spiegeln und die einander das vorwerfen, worunter sie selbst am allermeisten leiden. Ich bin müde wegen all der Hashtags, die aussehen wie niedliche kleine Gefängnisgitter.

Und ich bin dankbar. Und leer. Ich weiß nicht, ob ich jemals so müde gewesen bin, ob ich jemals mit so wenig Luft ausgekommen bin, aber die Leere ist gut. Ich würde sie vielleicht gar nicht erkennen, könnte nichts aus ihr lernen, wenn ich nicht so müde wäre.

All die Hilfswerkzeuge, die ich normalerweise mit mir herumtrage, liegen gerade fein säuberlich vor mir aufgereiht auf einer Werkbank. Der Sarkasmus, jede Entschuldigung, jeder Automatismus, die Wut, jedes Vorurteil, jede Luftpumpe und jeder Schleifstein. Dinge, die ich nutze, um mich kleiner oder größer zu machen für andere. 

Und da ist noch Platz auf der Werkbank. Da werden noch einige Hilfsmittel landen und ich werde sie nicht mehr jeden Tag automatisch mit mir herumschleppen und das ist ein gutes Gefühl. Es ist gut, weil ich ohnehin keine schweren Rucksäcke mehr tragen darf. Es ist gut, weil da jetzt freie Fächer sind, die gefüllt werden können mit belegten Broten und etwas, was ohnehin schon immer da war.

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Was mich aufregt – eine unvollständige Liste

Das Belächeln von Menschen, die sich manchmal selbst genügen. Oberärzte, die aus dem OP geholt werden, um die Frage zu beantworten, in welchem Fall Insektenstiche über die Berufsgenossenschaft abgerechnet werden. Die ungläubigen Blicke, wenn man sagt, dass man die Bachelor-Kandidatin leider nicht kennt, weil man den Fernsehanschluss daheim nicht benutzt.

Rentner, die verwundert gefragt werden, warum sie denn ausgerechnet jetzt, wo sie so viel Zeit haben, Bürgermeister werden wollen. Marie Kondos nett gemeinter Hinweis dazu, wie man mit runden Dingen verfährt, die man in eckige Schränke räumen möchte. Der gebildete Linke, der im Dorfgemeinschaftshaus grundsätzlich einer Diskussion mit dem ungebildeten Rechten aus dem Weg geht. Das ewig gleich klingende Bedauern nationaler und internationaler Politiker auf twitter, wenn irgendwo etwas schreckliches passiert ist. Feministinnen, die für alle Frauen sprechen wollen, ohne für alle Frauen sprechen zu können.

Die Umstände, die wir uns selber machen, die wir tolerieren, an denen wir festhalten. Die Sätze, die ich mir gelb markiert hab. Die nicht geballten Fäuste der anderen. Das Tief, das Hoch, die dazu passenden Kopfschmerzen. Die Suppe, die jeder für sich kocht, und die dann dementsprechend scheiße schmeckt. Die nicht erzählten Geschichten. Die Erschöpfung, die eintritt, bevor man überhaupt den ersten Schritt gemacht hat.

Die guten Momente, die in Vergessenheit geraten, weil niemand dabei war, der rechtzeitig auf den Auslöser gedrückt hat.

Man rät uns häufig, dass wir uns nicht immer so schnell im Recht fühlen sollen. Dass wir die Dinge sowieso nicht ändern können. Dass wir gar nicht so schlau sind, wie wir denken. Dass die Blase, in der wir leben, uns glauben lässt, wir würden auf der richtigen Seite stehen. Aber ich kann den Gedanken manchmal nicht schnell genug abschütteln. Er ist zu verlockend. Gerade eben, zwischen dem Öffnen der Kühlschranktür und dem Schließen der Rollläden, war ich mir für einen ganz kurzen Moment vollkommen sicher, trotz dieser bleiernden Müdigkeit der klügste Mensch auf diesem verdammten Erdball zu sein. Die einzige Person, die eine ungefähre Ahnung von all den Grauzonen hat, die das Leben uns anbietet. Bis sich dann die Kühlschranktür wieder schließt.

Davon träumen, wie es wäre, aus der Haut zu fahren bis sie platzt. Am nächsten Morgen wieder nur ein paar weitere harmlose Dehnungsstreifen am Körper entdecken.