Das hier wird jetzt sehr abstrakt. Ich entschuldige mich von Herzen bei all jenen Menschen, die damit nicht umgehen können.
Wenn du in den ersten Monaten deiner Selbständigkeit kurz davor bist, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und unter einem Berg von Zitronen, die dir das Leben angeblich schenkt, begraben zu werden, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Gut, es gibt unzählige Möglichkeiten, aber ich möchte nicht über die unzähligen Möglichkeiten schreiben, sondern nur über diese zwei.
Möglichkeit Nummer Eins: Du gehst nur einen Fuß breit in dich, dahin wo es noch nicht so dunkel ist, an das eine Ende des langen schmalen Flurs mit dem großen Fenster, in der Nähe des Haupteingangs. Nicht an das andere Ende, mit den vielen Türen und dem flackernden Licht, wo du einem schreienden Kind auf einem Bobbycar ausweichen musst, das gerade vor einem Clown flüchtet, der freitags im Home Office als Virtueller Exorzist arbeitet.
Am Anfang des Flurs ist es hell und da steht ein bequemes Sofa auf der rechten Seite und es gibt immer genug zu Essen, zu den immer gleichen Zeiten und du lässt dich nicht verrückt machen und du gönnst dir zur richtigen Zeit die richtige Pause und wenn das Telefon klingelt, dann gehst du spätestens nach dem dritten Klingeln ran.
Und du schaust nicht nach rechts in die Dämmerung und du interessierst dich auch nicht für all die Räume, für die Möbel in den Räumen, für die rauen Wände, die Spinnweben, die alten Bücher, die verstaubten Bilder und die herunter gebrannten Kerzen und die Schachteln und den Inhalt der Schachteln. Weil du die Räume schon gesehen hat, als du um das Haus herumgelaufen bist und von außen durch jedes Fenster geschaut hast.
Möglichkeit Nummer Zwei: Du versuchst es für eine kurze Zeit mit Möglichkeit Nummer Eins. Schnell stellst du fest, dass deine Peripherie für den Zweck nicht vorgesehen ist und es dich immer wieder tiefer in den Flur hinein zieht. Du betrittst also den Flur. Müde. Und ohne Proviant. Weil du denkst, dass du in zwei Stunden sowieso wieder zurück bist. Im ersten Raum stößt du auf Dinge, die dich irritieren. Die Schachteln sind beschriftet, aber der Inhalt lässt darauf schließen, dass jemand die Etiketten vertauscht hat.
Du raufst dir die Haare und fragst nach dem Warum. In der Ecke des Raumes steht ein Skelett und der Formlosigkeit des Schädels nach zu urteilen gehört es zu einem weißen, heterosexuellen Mann, der zu Lebzeiten ständig behauptet hat „Aber der Erfolg gibt mir recht!“, dessen Definition von „Erfolg“ aber irgendwie nicht so ausgereift ist.
Du öffnest das Fenster und die frische Luft erinnert dich daran, dass dir speiübel ist, und das Skelett klappert mit den Zähnen und dann will es dir eine Hochglanzbroschüre reichen mit einem ungeschickt formulierten Leitbild und du raufst dir die Haare und fragst nach dem Warum und verlässt den Raum.
Und dann findest du die Wandtattoos. Vertrauen. Innovation. Latte. Das Macchiato hat jemand heruntergebissen. Das Skelett vielleicht. Oder das Kleinkind.
Und du findest die Schublade mit den Dingern, die man sich an das Handy klemmt, um bessere Selfies machen zu können. Und dann klingelt das Telefon, irgendwo da vorne neben dem Sofa, aber du gehst nicht ran, weil du die unsichtbare Grenze überschritten und dir mittlerweile einen anderen Tagesrhythmus zugelegt hast. Wie früher. Mit 13. In den Sommerferien.
Du gehst erst wieder ran, wenn du den allerletzten Raum betreten hast und das kann dauern, denn du hast noch eine Menge vor dir und jetzt will der Clown dich in ein Gespräch verwickeln. Über Body Positivity. Und du denkst „Für den Anfang tut es Neutralität ja auch erstmal.“ Und du raufst dir die Haare und du fragst nach dem Warum.
Im nächsten Raum begegnen dir zwei Unternehmensberater, die leidenschaftlich darüber debattieren, zu welcher Uhrzeit Menschen am produktivsten sind und wie viel Geld man einsparen kann, wenn man aus mehreren Drei-Mann-Büros ein buntes Großraumbüro macht. Beide haben Barcodes im Nacken tättowiert und beide unterbrechen ihr Gespräch kurz, um sich dir vorzustellen. Du kannst dir die Namen nicht merken, die Namen spielen auch gar keine Rolle, du erkundigst dich aber mit ehrlichem Interesse nach den weiteren Zukunftsplänen der beiden.
Der eine erzählt dir von dem Bed & Breakfast in den Bergen, das er demnächst, wenn er denn dann soweit ist, renovieren möchte, weil es am Ende immer um Familie und frische Luft und regionale Zutaten geht. Da muss man aber auch erstmal drauf kommen. Das sagt einem ja auch keiner. Die eigenen Gefühle vielleicht, aber wer kann sich das heutzutage noch erlauben? Und der andere erzählt dir von den fair gehandelten Flipflops und dass er schon die Domain dafür reserviert hat.
Am Ende des Flurs werden dir zwei wichtige Dinge bewusst.
1. Nein sagen
Du wirst dich langsam auflösen und vermutlich in einem der Zimmer in irgendeinem Wandschrank verschwinden, wenn du nur so tust als würdest du dich wichtig nehmen, aber in den entscheidenden kleinen Momenten die falschen Entscheidungen triffst. Wenn du wie eine Aufziehpuppe immer wieder sagst: Ja. Kein Problem. Geht schon irgendwie. Na klar. Mach ich. Krieg ich hin. Ist keine große Sache.
Jedes unhinterfragte Ja ist eine Ohrfeige gegen dich selbst. Jedes Ja bedeutet, dass du Nein zu deinem Potenzial sagst und zu all den Menschen, die dir vertrauen und die dir eine Chance geben. Dein Ja hilft den Leuten nicht. Kurzfristig vielleicht, aber langfristig definitiv nicht. Du musst dich selber wichtig nehmen, um auch die anderen wichtig nehmen zu können.
Andersherum funktioniert es nicht. Es endet in einer körperlichen und seelischen Erschöpfung, die sich über Wochen und Monate ganz langsam aufbaut.
2. Generalisten und Spezialisten
Vor einem Jahr habe ich meinen Job gekündigt, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dass andere darüber entscheiden dürfen, wann ich welche Rolle einnehmen soll. Lückenfüller, Vertretung, Datensammler, Kreativer, Praktikant, Therapeut, fleißiges Bienchen, persönliche Assistentin. Selbst wenn das ihr gutes Recht ist.
Ich habe gekündigt, weil ich Verantwortung übernehmen wollte für mein Leben. Und weil außer mir kein anderer Mensch für mein Wohlbefinden verantwortlich ist oder wissen kann, wie beschissen es mir geht, solange ich nicht in der Lage bin, meine Bedürfnisse nachvollziehbar zu machen.
Ich habe gekündigt, weil die Panikattacken zurück gekommen sind. Ich habe gekündigt, weil ich irgendwann nur noch aus Selbstzweifeln bestand. Und weil ich nicht in der Lage bin, Brände zu löschen für Menschen, die mein Talent, diese Brände zu erkennen bevor sie entstehen, nicht sehen. Nicht sehen können. Weil sie sich um anderen Scheiß kümmern müssen. Um Scheiß, von dem ich nichts weiß. So wie die von meinem Scheiß auch nichts wissen. Und ein Text ändert daran auch nicht viel, denn der Scheiß bleibt graue Theorie, praktisch bleibt man relativ unbeteiligt.
Die Panikattacken sind verschwunden. Die Selbstzweifel sind geblieben. Auch das ungesunde Verhalten, vor allem die oben beschriebene Unfähigkeit, im richtigen Moment Nein sagen zu können.
Ich dachte, meine größte Herausforderung als selbständige Grafikdesignerin, wäre es, Aufträge zu bekommen. Die Wahrheit ist: Mein Gehirn ist meine größte Herausforderung. Dieses Gehirn gaukelt mir ständig vor, dass ich mir ein Spezialgebiet suchen muss. Das Internet trägt seinen Teil dazu bei. An jeder Ecke begegnen dir kreative Menschen, die offenbar seit Jahren ganz erfolgreich immer diese eine Sache machen. Der Illustrator mit dem unverkennbar eigenen Stil, den du unter tausenden widererkennen würdest. Die Grafikerin, die Webseiten baut für Kleinunternehmerinnen in Heilberufen. Der Typ, der scheinbar all sein Geld mit Ebooks verdient, in denen er den Leuten erklärt, mit welchen Hashtags sie auf Instagram Erfolg haben.
Spezieller geht es ja irgendwie nicht mehr. Und dann komme ich und mache mich selbständig. Als Pixelraupe. Geht ruhig auf die Homepage und schaut euch diese – Entschuldigung – unfertige Scheiße an. Ich bin momentan soweit zu sagen: Es ist ok. Denn das ist ja der Punkt. Ich bin unfertig, auch wenn ich mich manchmal ziemlich fertig fühle, und ihr seid es auch, glaubt mir, ihr seid es, wir werden alle gemeinsam unser Leben lang unfertig sein, und das ist beängstigend und wunderbar und alles in allem ziemlich ok. Aber zurück zum Thema.
Ich mache mich also selbständig. Eine Scannerpersönlichkeit, introvertiert, intuitiv, eine Nachteule, eine Scheiß Mischung aus zu viel und zu wenig Temperament, gelernte Grafikerin, aber mein Herz besteht nicht nur aus Bildern und Farben, ein nicht unerheblicher Teil besteht aus Worten, weil Worte – richtig eingesetzt – der schönste Umweg sind hin zu schöneren Bildern und intensiveren Farben. Es ist ein Fluch und ein Segen zugleich.
Die Wahrheit ist: In den ersten Monaten meiner Selbständigkeit kamen mir meine Tage vor wie dieses oben beschriebene kopflose Herumirren von Raum zu Raum. Ich stehe immer noch in diesem Haus in einem dieser Räume und werfe hilflose Blicke in einzelne Schubladen eines Apothekerschranks. Und das was mir bisher am allermeisten die Laune verdorben hat – neben meiner angeborenen Unfähigkeit, das Wort „nein“ zu denken, geschweige denn auszusprechen – war das Thema Positionierung.
Positionierung im herkömmlichen Sinn funktioniert nicht, wenn du Generalist bist und dich gerade im kreativen Bereich im ländlichen Raum selbständig gemacht hast. Positionierung lähmt dich, wenn du die Sache falsch angehst. Wenn du denkst, dein Problem wäre, dass du zu perfektionistisch, zu schlecht, zu blöd, zu unsicher oder sonst etwas bist, dann kann es sein, dass du dir einfach nicht die Zeit genommen hast, dich zu fragen, ob du zu den Spezialisten oder zu den Generalisten zählst und was das jetzt konkret bedeutet.
Ich liebe meinen Beruf. Aber das weiß ich erst seit ein paar Wochen wirklich. Ich mache ihn seit fast fünfzehn Jahren, aber erst eine Zwangspause im August mit 0 Euro Umsatz hat mir gezeigt, dass ich ihn liebe und dass das nur gelingt, wenn ich unabhängig von der Meinung anderer definiere, was er bedeutet. Und damit kämpfe ich gerade und es fühlt sich so an als hätten meine Tage nicht genug Stunden.
Ich liebe meinen Job unter der Voraussetzung, dass ich mich nicht spezialisieren und in irgendeine Nische zwängen muss. Und auch wenn viele Menschen der Meinung sind, dass der Grafik-Designer derjenige ist, der in ein Haus kommt und da frische Blumen auf den Wohnzimmertisch stellt und die Gardinen wechselt, der also Dinge schön macht. Diese Person werde ich, ob ihr es glaubt oder nicht, niemals ausschließlich sein, auch wenn mir diese Arbeit immer wieder Spaß macht. Ich kann das jeden Tag mehrere Stunden lang machen. Aber eben nicht nur. Ich bin von Natur aus eher der Mensch, der das Haus betritt, sich umschaut und dann manchmal zu dem Ergebnis kommt, dass es sinnvoller ist, erstmal einen Container vor dem Haus aufzustellen und einen Haufen Zeug aus dem Fenster zu schmeißen. Und das hat viel mit Zuhören zu tun. Mit Beobachten. Mit dem Erkennen von Zusammenhängen. Mit dem Lesen von Fußnoten. Mit der Bereitschaft Fragen zu stellen, statt Argumente vorzubringen. Das kommt meistens nicht wie aus der Pistole geschossen. Das ist eher ein Bogen, den man erstmal spannen muss.
Ich liebe es, Dinge zu sortieren, Dinge zu sammeln, zu suchen, Daten zu analysieren. Wenn das dabei hilft, etwas oder jemanden besser zu verstehen. Wenn es der Sache dient. Ich hasse es, dieselben Dinge aus der Not heraus zu tun, weil das Ur-Prinzip „Wenn alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich.“ mal wieder alle Schiffe versenkt. Ich mag Menschen, die wissen, was für eine große Rolle der Kontext spielt. Dass Menschen vollkommen andere Entscheidungen treffen, sich anders verhalten, wenn sie frei wählen können. All das hat mit Design scheinbar nichts zu tun. Aber die Grafik-Designer, deren Namen man kennt, diejenigen, die das seit dreißig oder vierzig Jahren machen, das sind diejenigen, die sich in erster Linie für Menschen interessieren, nicht für die Schönmacherei. Und nicht selten sind das auch Leute, die mit Worten umgehen können. Die die Inhalte ernst nehmen. Weil Design ohne Inhalt Dekoration ist.
Produktentwickler John Cutler hat in einem Text auf Medium mal geschrieben:
„Engineers and designers are trained problem solvers (and problem definers/explorers, and systems thinkers, and cost/benefit analyzers, etc). They can sniff out incoherence a mile away, even if it isn’t their individual area of focus and expertise. So, while a designer may not be a “business expert”, they’re likely able to sense a business strategy that doesn’t add up. They can also tell when someone is flat out guessing.
When they (engineers and designers) repeatedly can’t see the impact of their work, or impact is wrapped in success theater, or the product manager’s actions are incoherent, or explanations are weak and opaque…they are likely to start losing faith and trust. Even small and innocent things can be a trigger.“
Der Mann hat recht. Aber so recht glauben will das niemand, weil es nicht in das Bild vieler Menschen passt. Man muss sich trauen, das der Welt auch zu beweisen, auf die ein oder andere Art. Und man muss wissen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, die Methoden anderer zu ignorieren und wieder nach den eigenen Prinzipien zu handeln.
Was das für meine Arbeit und mein Leben bedeutet? Ich werde anderen möglicherweise in naher und ferner Zukunft eher erklären können warum Dinge geschehen oder nicht geschehen sind. Ich werde mit dem vagen Gefühl leben, mich manchmal unbeliebt zu machen, und hoffentlich und vielleicht manchmal mit der Hilfe von Menschen, die mich wirklich gut kennen, feststellen, dass ich damit leben kann und dass sich viele Sorgen nicht bewahrheiten.
Ich werde Ausflüge in andere Welten nicht mehr als Ausflüge betrachten, sondern als etwas, das fest zu mir gehört. Vor allem, wenn es mir viel Energie zurück gibt.
Ich werde meine Aufmerksamkeit anders einteilen und das bedeutet, dass ich endlich akzeptieren muss, dass mein Motor, mein größter Antrieb sich für andere manchmal anfühlt wie eine Bremse. Und das möchte ich nicht. Ich will nicht, dass der Generalist und der Idealist in mir meinen momentanen Berufsalltag behindern. Deshalb muss ich ihnen Raum geben und ich muss mich um sie kümmern und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Aber ich werde Ihnen nicht mehr erlauben, ständig auf meinem Schoß zu hocken, wenn ich am Schreibtisch sitze. Es sei denn, ich treffe die bewusste Entscheidung.
Es bedeutet, dass ich die Zusammensetzung der Zutaten, mit denen ich täglich arbeite, anpassen und nicht jedes mal automatisch meine geheime Lieblingszutat aus dem Schrank holen muss. Die Zutat die viele nicht kennen, von denen einige etwas ahnen, und mit der nur ein kleiner Kreis von Menschen wirklich etwas anzufangen weiß – und es ist übrigens nicht Dill, denn Dill versteht wirklich keine Sau. Diese Zutat, die jeder Mensch besitzt, muss man beschützen und einen bewussten Umgang mit ihr pflegen. So pathetisch das klingt und egal wie hart das ist für jemanden wie mich.
Es bedeutet auch, dass ich mich in den nächsten Wochen dazu zwingen muss, wieder mehr zu schreiben, an verschiedenen Orten, um wieder ein Gefühl für die Dinge zu bekommen, die mich antreiben. Um zu überzeugen. Um zu informieren. Um Impulse zu geben. Um Menschen manchmal auch das Alleinsein erträglicher zu machen. Wenn ich schreibe, dann reagiert mein Körper wie der Körper eines kerngesunden Menschen. Wenn ich schreibe, dann kann ich überzeugend sein. Wenn ich schreibe, dann interessieren mich trommelnde Finger, ungeduldige Blicke und blinde Flecken nicht.
Darauf freue ich mich. Ich sage danke für eure Aufmerksamkeit. Steht zu eurem Gehirn und seid gut zu euch selbst.
Weiterhin alles Gute
Eure Franziska