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Kopf

Es geht gleich wieder

Heute lebe ich seit ungefähr 400 Tagen mit einem seltsamen Gefühl im Nacken. Nicht ununterbrochen, aber immer mal wieder. Es ist eine Mischung aus Sorge und Mitgefühl, etwas, das zur Hälfte nach innen und nach außen geht. Alle paar Tage bis Wochen heule ich einmal kurz Rotz und Wasser und bis auf wenige Ausnahmen bin ich dabei immer allein. Einige Male, in denen ich nicht allein war, hatte ich trotzdem das Gefühl, allein zu sein.

Seit ein paar Monaten kann ich mir vorstellen, was passieren muss, damit aus einem Menschen, der immer weinen und offen über die eigenen Sorgen sprechen konnte, jemand wird, der sich so eine richtig hässliche drittklassige Rüstung zulegt. Also keine gute Rüstung, die wirklich was taugt und gut sitzt und aus gutem ganz leichtem Material ist, sondern so eine aus dem … sagen wir mal… Action Markt. Aber immerhin – eine Rüstung.

Ich heule nicht, weil ich in einer akuten, verzweifelten Lage bin oder weil jemand, der mir etwas bedeutet, an dem Virus gestorben ist, sondern weil ich nicht diszipliniert genug bin beim Abschütteln von negativen Gefühlen. Und weil ich nie lange an dem Gefühl festhalten möchte, sondern ihm eigentlich nur die Tür öffnen, es sehen, annehmen, kurz umarmen und dann wieder verabschieden möchte. Einmal kurz heulen und dann geht es einfach weiter.

Manchmal begegnen wir im Leben Menschen, die es nur gut meinen, wenn sie uns vorschlagen, dass wir das Klopfen auch einfach ignorieren können. Man muss das negative Gefühl ja nicht reinlassen.

Das Problem ist, diese Leute sitzen oft mit dem Rücken zum Fenster und sie sehen nicht, wie das Gefühl noch eine Weile ums Haus schleicht und durch die Scheibe schaut. Und selbst wenn wir dann die Gardinen zuziehen, wissen wir: Das Gefühl war da, es hat geklopft, es kann noch nicht weit sein.

Und was der andere Mensch, der es vielleicht nur gut meint oder der sich vielleicht einfach nur selber schützen oder nicht gestört werden möchte, nicht weiß: Dieses negative Gefühl flüstert uns – also mir – bei dieser kurzen Begegnung immer etwas ins Ohr. Und das sind nie böse Worte, das ist keine Beleidigung oder ein Fluch.

Es sagt: Pass gut auf dich auf.
Genau genommen sagt es immer nur zwei Sätze.
Zur Begrüßung: Komme ich gerade ungelegen?
Zum Abschied: Pass gut auf dich auf.

Manchmal glauben die Menschen, die mit dem Rücken zum Fenster sitzen, und gerade nur nach drinnen und nicht nach draußen schauen können, dass das Gefühl zum Essen bleiben möchte. Sie glauben, es bleibt länger, es hat Durst und Hunger und erwartet jetzt irgendwas. Oder packt direkt die Isomatte aus. Aber das Gefühl will nie lange bleiben und es erwartet eigentlich gar nichts Besonderes von uns, nur dass wir es ein einziges Mal kurz reinlassen, nur dass wir das Klopfen nicht ignorieren.

„Es geht gleich wieder.“, sagen wir, wenn der andere fragt, was er tun soll oder eine Lösung vorschlägt für ein flüchtiges Problem. Für etwas, was gar kein richtiger Besuch ist, nur ein kurzes Signal, empfangen von Antennen, die wir dann irgendwann – weil wir uns schuldig fühlen – abschrauben.

Und dann werden wir unglücklich, wir erleben den Anfang und den Mittelteil und das Ende vom Ende, und wir vergessen, dass es keine Rolle spielt, ob irgendeiner von den wunderbaren Menschen und den verdammten Wichsern da draußen unsere Furchtlosigkeit als solche überhaupt erkennt.

Niemand hat uns tatsächlich gebeten, die Antenne abzuschrauben. Das braucht es gar nicht. Es reicht manchmal aus, in einer Gesellschaft zu leben, die einen Teil ihrer Zeit damit verbringt, sich über ungebetene Gäste zu beschweren. Über diese negativen Gefühle, die gleich wieder gehen, wenn man sie akzeptiert, von denen man aber nie weiß, wie lange sie eigentlich im ungünstigsten Fall ums Haus schleichen.

Vor drei Wochen habe ich wieder eine leere Word-Datei geöffnet und einige meiner Lieblingsorgane (jeder braucht Lieblingsorgane. Welches sind eure? Schreibt´s mir in die Kommentare) haben sich angefühlt als wären sie irgendwie über Nacht leichter geworden. Es hat geklopft, ich hab die Tür geöffnet und noch auf der Schwelle einen längeren Blick auf die Sorgen und den Zorn und die Unzulänglichkeit geworfen. Und mir erlaubt zu fragen: Wo kommt ihr überhaupt her?

Und seid ihr hier überhaupt richtig?

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