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Zwischen den Jahren – ein Rückblick und Ausblick

Seit Jahren beobachte ich an mir zwischen Weihnachten und Silvester ein lästiges Phänomen. Während um mich herum alle entweder betrunken und vollgefressen sind oder den unmenschlichen Stress der Feiertage in einem Wellness-Resort verarbeiten, liege ich in eine Decke gewickelt irgendwo in der Wohnung herum, grüble, seufze und ernähre mich grenzwertig. Schlafanzugtag, nenne ich das liebevoll. Gemeint ist eigentlich: Schlafanzugwoche.

Schlafanzugtage

Anstatt bei ersten Anflügen von Weltschmerz entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen – nämlich einen gemütlichen Spaziergang zu machen, einen motivierenden Song von Destiny´s Child zu hören oder mir wenigstens bei geöffnetem Küchenfenster einen Obstsalat zuzubereiten – tue ich rein gar nichts und bilde mir ein, dass ich mir diese an ein Koma grenzende Entspannung jetzt durchaus mal gönnen kann.

Schlafanzugtage beginnen schleichend und zunächst vollkommen harmlos. Am 27. Dezember geht man im Schlafanzug an die gelbe Tonne und denkt sich erstmal nichts. Vielleicht sehen es die Nachbarn, vielleicht sieht es nur die Katze, was soll´s? Am 28. Dezember fährt man im Schlafanzug zu McDrive. Am 29. Dezember steht man im Schlafanzug an der Packstation (Ihre Amazon-Bestellung von COACH DICH SELBST SONST COACHT DICH KEINER liegt in der Packstation und kann abgeholt werden.) Am 30. Dezember will man nur mal schnell im Schlafanzug ein bisschen Geld am Bankautomaten abheben und am 31. Dezember ist man Gast auf einer Mottoparty, aber man hat das Motto vergessen und traut sich nicht nachzufragen und so tut man einfach so, als wäre das Motto „Pyjamaparty!“

Im letzten Jahr bin ich mit vier großartigen Menschen und einem Weltklassehund in eine Hütte nach Österreich geflüchtet. Das war schön. In diesem Jahr habe ich zwischen Weihnachten und Silvester freiwillig zwei Tage gearbeitet, war einmal im Kino und hatte einen vergnügten Weinabend. Außerdem habe ich mich heute eine ganze Stunde lang in unterschiedlichen Supermärkten aufgehalten, um meinen Adrenalinausstoß zu fördern und um morgen, am letzten Tag des Jahres, von mir sagen zu können, dass ich ein zivilisierter Mensch bin. Die Schlafanzugtage sind also Vergangenheit. Fürs Erste.

Lehrstunden

Das Jahr 2016 war ein gutes Jahr, nicht weil es mir besonders gut ging in diesem Jahr, sondern weil ich nun bis auf vier oder fünf Stellen hinter´m Komma weiß, warum es mir immer wieder so schlecht geht. Es hat mir gezeigt, dass es mir auf hohem Niveau schlecht geht. Ich habe in diesem Jahr gelernt, dass man mir nicht ansieht, in welchen Momenten ich deutlich mehr und auch deutlich weniger leistungsfähig bin als der angebliche Durchschnittsmensch, von dem man immer wieder so viel hört, dem ich aber noch nie begegnet bin.

Ich habe gelernt, dass ich diese Momente, diese Freiheit nicht geschenkt bekomme, solange ich nicht darüber spreche, mit möglichst ruhiger und fester Stimme, und solange ich nicht das Risiko eingehe, mich unbeliebt zu machen. Ich habe gelernt, dass es Auswirkungen hat – negative, psychische, physische – wenn man fünfmal „Ja“ sagt und erst beim sechsten Mal „nein“, weil in mir offenbar doch mehr von einem harmoniesüchtigen Perwoll-Mädchen steckt als ich wahrhaben möchte.

Das Jahr 2016 war ein gutes Jahr, weil es mir zweimal gezeigt hat, dass ich im entscheidenden Moment instinktiv das Richtige tue. Ich habe ein paar gute Orte besucht (aber ich war nur zwei Minuten in der Jazzbar, weil ich keinen Familienstreit auslösen wollte) und gute Gespräche geführt (die man nur jedem wünschen kann) und gute Menschen kennen gelernt und ich hatte Angst um andere gute Menschen, die habe ich immer noch, aber man lernt damit zu leben, und das ist noch etwas, was ich in diesem Jahr gelernt habe. Man lernt zu leben mit negativen Gefühlen wie Bedauern, Trauer und Angst, vorausgesetzt man redet darüber. Das ist etwas, was ich euch allen ans Herz legen möchte.

Schämt euch nicht immer so. Redet darüber. Einer wird euch dann ein bisschen bedauern für euer mangelndes Dies und euer fehlerbehaftetes Das, dafür dürft ihr denjenigen dann auch ein bisschen bedauern. Die anderen nehmen euch später in einer ruhigen Minute beiseite und bedanken sich. Von Herzen.

Zukunftsmusik

Spotify sagt, dass meine zwei meist gehörten Songs im Jahr 2016 von The Baboon Show („Class War“) und Justin Bieber („Sorry“) sind, eine schöne Zusammenfassung meiner beiden liebsten Aggregatzustände. Der Gastroenterologe sagt, es ist das Roemheld Syndrom. Und Max Goldt sagt in einem Interview mit der Zeit, dass seine Schreibblockade eigentlich eine Angststörung ist, eine Angst vor dem Scheitern und vor der Mühe, weil die sich nicht lohnen könnte. Vielleicht ist das die einzige Angst, die nicht weniger wird, mit der man nicht automatisch besser umgehen kann, nur weil man mal mit irgendwem drüber redet. Weil es ein Luxusproblem ist.

Das nächste Jahr wird spannend. Ich werde das Pflaster auf meiner Laptop-Kamera kleben lassen aus Furcht vor einer möglichen E-mail von einem NSA-Mitarbeiter („Hallo Franziska, ich arbeite bei der NSA und soll eigentlich die Chinesen beobachten. Ich bin vor drei Monaten aus Versehen bei dir gelandet. Wo hast du gelernt, so fantastisch zu tanzen, ohne vom Stuhl aufzustehen? Deine Spotify-Playlists sind einwandfrei, lass uns auch auf Instagram enge Freunde sein. Alles Gute, dein Chad.“).

Ich werde versuchen weniger Kaffee zu trinken. Ich freue mich auf eine neue Wohnung, neue Rituale, neue Herausforderungen und einen Staubsauger-Roboter. Ich freue mich auf Hochzeitspartys, auf weniger Schischi und auf mein eigenes kleines Zimmer, in dem ich Listen abhaken, schreiben oder einen Boxsack aufhängen kann.

Und eventuell finde ich sogar auch endlich Zeit und Gelegenheit für mein „Going loco down in Acapulco“-Tattoo. (Es ist sehr wichtig, dass das Tattoo zum Träger passt. Noch Fragen?) Ich wünsche uns allen ein bisschen mehr Frieden im Jahr 2017. Im Drinnen und im Draußen. Ich wünsche uns Brausebonbons und Schnürsenkel, die nie aufgehen. Ich wünsche uns gute Musik und Mut und dass wir sowohl Lehrer als auch Schüler sein dürfen. Ich gehe jetzt ins Bett. Heute Abend gibt es Pizza-Raclette.

Eine Antwort auf „Zwischen den Jahren – ein Rückblick und Ausblick“

Ich musste an sehr vielen Stellen sehr laut lachen. Ich musste auch die Stirn runzeln, manchmal zweimal lesen, mir ein „ach du auch“ verkneifen und mich freuen, dass du das Bild mit den Nachkommastellen gefunden hast. Das trifft es nämlich sehr gut. Lehrreich, vielleicht ist das eins der besten Worte, um 2016 zu beschreiben. Und du hast recht, jetzt reicht es auch wieder mit den Pyjamatagen. Ich gehe mal eben Duschen.
Fühl dich wertgeschätzt, Lisa

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